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Als die Schweiz zum weltweiten Rechtsvorbild wurde

Vor 100 Jahren, im Januar 1912, trat nach einem genialen Entwurf des Schweizer Juristen und Rechtsprofessors Eugen Huber das erste, für die ganze Schweiz verbindliche Zivilgesetzbuch – kurz ZGB – in Kraft.

Südostschweiz
31.01.12 - 01:00 Uhr

Von Johann Ulrich Schlegel

Bern. – Im 19. Jahrhundert herrschte in der Schweiz auch nach der Gründung des modernen Bundesstaates von 1848 noch von Kanton zu Kanton ein anderes Recht. Eine Vereinheitlichung wurde immer dringlicher. Endlich hatte die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 Signalwirkung. Der Bund erhielt umfassende Gesetzgebungskompetenzen. Als Erstes benötigten der aufstrebende Handel, die Industrie und der Verkehr ein einheitliches Recht. So trat 1883 das Obligationenrecht (OR) für die ganze Schweiz in Kraft. Es wurde Bestandteil des Zivilgesetzbuches. Genau dieses harrte aber noch der Erarbeitung. Und vor allem: Näher am Herzen als Handel, Verkehr und Industrie liegen dem Menschen seine ganz persönlichen Anliegen wie Mündigkeit, Rechtsfähigkeit, Verwandtschaft, Erbrecht und Besitz oder Eigentum. Diese Tatsache erklärt die nie zuvor erlebte aufwühlende Gesetzesdebatte, welche das Volk von den Zeitungsartikeln bis hin zu den Stammtischen ergriff.

Nun hatte Deutschland wenige Jahre zuvor die gleiche Aufgabe in Angriff genommen. Im Gegensatz zur demokratischen Schweiz hatte Deutschland gerade nicht einen Einzelnen wie in der Schweiz, sondern eine ganze Kommission gelehrter Fachleute bestellt. Dieses somit scheinbar demokratienähere Gremium verfasste in einer Parallele zum ZGB das sogenannte BGB, das Bürgerliche Gesetzbuch, welches zum Debakel, ja Gespött des Volkes wurde. Hoch spezialisiert, hoch wissenschaftlich, sah es sich dem jahrhundertelangen Beamtentum und seiner Juristentradition verpflichtet und fiel entsprechend schwer verständlich aus. Die Schweiz hat von diesem Missgriff gelernt. Sodann sind Rechtsanliegen im guten Staat dadurch gekennzeichnet, dass sie lebensnah, praktisch und gemeinverständlich sind. Diese Voraussetzung ist ein hohes Gut jeder sauberen Rechtsentwicklung, und sie ist in ihrer zeitlosen Klassizität bis auf den grossen antiken Staatsmann und Gesetzgeber Solon zurückzuführen.

Selbstständiger Autor und Chef

In der Schweiz sollte nicht ein sich verzettelndes, gruppendynamisches Supergremium, ein demokratieähnlicher Klub, den grossen Wurf einer Privatrechtsgesetzgebung, das ZGB, machen, sondern gerade ein selbstständiger, einzelner Autor und Chef. Dieser Autor wurde Eugen Huber.

Auch Huber musste darauf achten, dass sein Werk am Ende dem Volk entsprach. Unweigerlich kam der demokratische Zeitpunkt, wo sein Gesetzbuch das Parlament passieren musste und ein Referendum des Volkes sich nicht aufdrängen und sein Schaffen zu Fall bringen durfte. Genau in diesem Punkt erwies sich neben der Fachkompetenz auch die hohe politische Kompetenz des Professors.

Er schrieb das Gesetz, 977 Artikel umfassend, übersichtlich und so, dass es auch dem Laien verständlich ist. Es besteht aus den vier Teilen Personenrecht, Familienrecht, Erbrecht und Sachenrecht. Zudem enthält es eine weltberühmt gewordene Einleitung sowie am Schluss Anwendungs- und Einführungsbestimmungen. Die Sprache ist einfach und klar, und die Artikel sind sauber und kurz gefasst. Huber vermied Fremdwörter. Er schaute, um es mit Martin Luther zu formulieren, dem Volk aufs Maul. Dies zeigt sich etwa darin, wenn er von «Haus und Hof» (Artikel 710), von «Heirat macht mündig» (Artikel 14) oder von «Rat und Tat» (Artikel 161) spricht.

Einleitung erregte weltweit Aufsehen

Besonders die Artikel 1 und 2 der erwähnten Einleitung erregten weltweites Aufsehen, weil er die richterliche Rechtsfindung klar festlegte sowie die Ausübung eines Rechtes nach Treu und Glauben, womit er dem offensichtlichen Rechtsmissbrauch eine deutliche Absage erteilte. Hubers Absage an falsche Buchstabengerechtigkeit wurde zum revolutionären Feuerzeichen weltweit.

So liegt auf der Hand, dass das ZGB zu einem Klassiker der Rechtsfindung wurde. Und es liegt auch auf der Hand, dass es sowohl die Hürde des Parlaments als auch jene einer möglichen Opposition des Volkes via Referendum relativ reibungslos nahm. Es entspricht einerseits der Grosstat Hubers und andererseits der Einsicht und Akzeptanz damaliger schweizerischer Demokratie und ihrer Schaffenskraft, dass in Deutschland später das ZGB zum Schlagwort von Reformbestrebungen wurde, so beispielsweise im Eherecht.

Länder wie Peru, Albanien, China, Polen, Rumänien und Bulgarien haben Teile des ZGB übernommen. Nachahmungen, im Familienrecht, fanden sich in Lettland, Estland, Litauen und der Tschechoslowakei.

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