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«Ich bereue nichts, was früher war»

Er war Banker bei Lehman Brothers. 2007 kündigte er seinen Job, packte den Rucksack, verliess Frankfurt und wanderte fünf Monate lang über die Alpen. Auf Umwegen kam Rudolf Wötzel dann im «Gemsli» in Schlappin an.

Südostschweiz
19.12.10 - 01:00 Uhr

Von Cornelia Diethelm (Text) und Marco Hartmann (Bilder)

Im Klosterser Seitental Schlappin hat sich mit dem Schnee die Stille über das Walserdörfchen und den kleinen See gelegt. Auch das «Gemsli» ist im Winterschlaf. Keine Gäste mehr auf der Sonnenterrasse oder in der Gaststube. «Innerhalb von zwei Sekunden werde ich vom Kommunikator zum Eremiten», beschreibt Rudolf Wötzel das Saisonende.Vor einem Jahr kaufte der 47-Jährige das Berghaus «Gemsli» – er nennt es Berg(zu)Haus, «denn die Gäste sollen sich bei uns zuhause fühlen». Dieses Jahr war seine erste Saison als Unternehmer mit fünf festangestellten und einigen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Geld gezählt habe er früher nie – «erst hier zähle ich jeweils am Abend die Tageseinnahmen», sagt er und schmunzelt.«Früher» – das war sein Leben als Investmentbanker in den Finanzmetropolen Zürich und Frankfurt, in Bürotürmen aus Stahl und Glas. Da ging es karrieremässig fast 20 Jahre aufwärts. Rudolf Wötzel war zum Beispiel mitverantwortlich, dass es zwischen Lufthansa und Swiss zu einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss kam. So was tut dem Ego gut. Weniger gut taten die 100-Stunden-Wochen, die ständige Erreichbarkeit, der permanente Druck, die jungen, aufstrebenden, aggressiven Kollegen. Das hatte Auswirkungen auf die Gesundheit. Lungenentzündungen, kaputtes Immunsystem, Sinnkrise.

2000 Kilometer zu Fuss über die Alpen

Rudolf Wötzel begann nach dem Sinn seines Lebens zu fragen. «Ich entwickelte die Vision, die Alpen zu überqueren.» Von Salzburg nach Nizza ans Meer. 140 Etappen, genau geplant, in einer Tabelle auf dem Computer eingetragen. Alles bereit – nur er selber nicht. «Mich lähmte die absurde Angst, dass ich, wenn ich meine Stelle kündige, ein Jahr später unter einer Brücke leben würde.» Im September 2006 reiste er beruflich nach Salzburg. Als er vom Hotelzimmer auf den Balkon trat, sah er direkt an einen Berg und realisierte: «Das ist ja der Hochthron – der Berg, von dem aus ich meine Alpenüberquerung geplant hatte. Das war mein Zeichen. Eine Woche später hatte ich gekündigt.»Am 22. Mai 2007 startet Rudolf Wötzel in Salzburg seine Alpenüberquerung. Er macht sich auf den Weg ins Abenteuer und in ein sinnerfülltes Leben. Der Weg ist weit, steil, steinig, manchmal gefährlich, oft einsam. 2000 Kilometer zu Fuss. Während der fünf Bergmonate nimmt Rudolf Wötzel 15 Kilogramm ab, er bekommt ein neues Körpergefühl. Wirklich klettern konnte er zuvor nicht, nun lernt er es von Bergführern und erfährt, was echte Seilschaft ist. «In den Firmen, in denen ich gearbeitet hatte, sprach man auch von Seilschaft, aber es ging nur darum, den richtigen Moment zu finden, das Seil der Konkurrenz durchzuschneiden.»

«Verzicht macht zufriedener»

Rudolf Wötzel hatte sich sein Leben lang über Leistung definiert. Gute Schulnoten, tolles Abitur, erfolgreicher Studienabschluss und dann Spitzenjobs mit hohem Lohn – all das gab ihm Wert. «Ich war auf der ständigen Suche nach Anerkennung.» Beim Unterwegssein von Salzburg nach Nizza hatte er plötzlich sehr viel Zeit zum Nachdenken. Fast wie eine Selbsttherapie war das. «Loslassen bereichert, Verzicht macht zufriedener», merkte er. Und er lernte, sich mit seiner Kindheit zu versöhnen: «Wer die Verantwortung für das eigene Leben nicht übernimmt, wird sich immer als Opfer fühlen und unfrei bleiben.»Erinnerungen an die Ferien zusammen mit dem Vater in den Schweizer Bergen tauchen auf. An Klosters und an den Heidilift, wo er als Vierjähriger Skifahren lernte. Immer deutlicher wird der Wunsch, in den Bergen zu leben. Nach seiner Alpenüberquerung zieht er sich in seine Ferienwohnung in Klosters-Monbiel zurück, die heute sein Hauptwohnsitz ist. Er beginnt zu schreiben. Zunächst für die eigene Verarbeitung. «Ich wollte mit dem Schreiben meine Erfahrungen zu Ende denken, vertiefen, durchdringen.» Doch Rudolf Wötzel ist und bleibt ein ehrgeiziger Mensch und er liebt die Öffentlichkeit. 2009 erschien «Über die Berge zu mir selbst» im Integral Verlag, München. Ein Bestseller.Vor einem Jahr kaufte Rudolf Wötzel das «Gemsli» in Schlappin. Das Berg(zu)Haus ist sein beruflicher Anker und gibt ihm während fünf Monaten Struktur. Hier setzt er um, was er selber in Berghütten kennen und schätzen lernte: «die spezielle Atmosphäre, das Herzlich-Wohlige». Die erste Saison hat er hinter sich und er sagt, es sei die richtige Entscheidung gewesen. Auch wenn er das Haus allein führt, was nicht so geplant war. «Aber man kann nichts erzwingen – weder im Beruf noch in der Liebe», betont er.Ausserhalb der Bergsaison gestaltet Rudolf Wötzel seine Tage flexibel. Zurzeit schreibt er an einem zweiten Buch – Ende April 2011 soll es in Druck gehen. Es wird eine Vertiefung von «Über die Berge zu mir selbst» sein und sich vor allem dem Thema «Selbstbestimmtes Leben» widmen. Darüber hinaus hält er Vorträge und entwirft ein Coaching-Konzept, das Menschen helfen soll, Beruf und Privatleben nachhaltig zu verbinden.

Man kann nicht einfach den Schalter umlegen

Rudolf Wötzels Weg führt mehr und mehr aus der Fremdbestimmung hinaus. Doch Selbstbestimmung und vor allem Eigenliebe seien eine tägliche Herausforderung, da könne man nicht einfach einen Schalter umlegen. Mit innerer Freude erfüllt es ihn, in der Natur zu sein. Und über eine seiner wertvollen Erkenntnisse der letzten Zeit sagt er: «Im Moment, wo das Leben eine andere Richtung nimmt, bekommt all das, was vorher war, einen tiefen Sinn. Ich bereue nichts, was früher war. Jeden dieser Schritte brauchte ich, um bei mir anzukommen.»

Für die in loser Folge in der «Südostschweiz am Sonntag» erscheinende Serie «Lebenswende» besucht die Journalistin Cornelia Diethelm Menschen, deren Leben von einem Tag auf den andern eine neue Richtung genommen hat. Haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch einen Neuanfang gewagt? Oder wurden Sie durch einen Schicksalsschlag gezwungen, Ihr Leben neu zu gestalten? Wenn Sie davon erzählen möchten, wenden Sie sich an Cornelia Diethelm: Telefon 081 325 23 73, E-Mail cornelia.diethelm@gmail.com.

Bereits erschienen: «Ich kann vieles nur im Kopf leben» (Ausgabe vom 10. Oktober), «Wir haben unsere Chance genutzt» (Ausgabe vom 14. November).

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