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Zu Papier gebrachte Leidenschaft

Dû bist mîn, ich bin dîn:

Südostschweiz
20.12.14 - 01:00 Uhr

Dû bist mîn, ich bin dîn:

des solt dû gewis sîn.

dû bist beslozzen

in mînem herzen.

verlorn ist das slüzzelîn:

dû muost immer drinne sîn!

Du bist mein, ich bin dein:

dessen sollst du gewiss sein.

Du bist verschlossen

in meinem Herzen.

Verloren ist das Schlüsselein:

du musst immer darin sein.

Dieses Minnelied aus dem 12. Jahrhundert gehört auch heute noch zum Schönsten, was je über die Liebe gesagt wurde. Die Verse bilden eine Fussnote zu einem lateinischen Liebesbrief, der vermutlich von einer jungen Nonne verfasst wurde.

Das ist nun über 800 Jahre her. Und immer noch lesen und kanonisieren wir dieselben alten Liebesgeschichten und Liebesgedichte. Das erwecke in uns die Illusion, «dass wir es mit derselben Form von Liebe zu tun haben», sagt die israelische Soziologin Eva Illouz in der FAZ. Die heutige Zeit zeigt aber Unterschiede im Liebesethos: In der kommerzialisierten Konsumgesellschaft erzählt uns jede Pasta-Werbung, dass die Spaghetti erst schmecken, wenn man sie als Paar geniesst. Romantische Liebesverhältnisse sind heute mitunter industrielle Konstruktionen – gemacht und propagiert von Film und Fernsehen, Musik und Werbung. Diese neuen, überhöhten Liebesideale sind Projektionsflächen, welche die Erwartungen an die eigene Beziehung hoch ansetzen. Der Druck ist gross, und das Visuelle ist längst wichtiger als das Wort. Wie sonst könnten Paare sich so viel versprechen und dann scheitern? Illouz schreibt in ihrem vielbeachteten Buch «Warum Liebe weh tut», dass Beziehungsprobleme, die oft individuell begründet werden, Ausdruck dieser «kollektiven Überforderung» seien. Auch die schier unerschöpflichen Wahlmöglichkeiten sorgen für Ambivalenzen und Unsicherheiten, das lehrt uns auch der «Bachelor».

«Wir gehen ins Restaurant und finden das romantisch», sagt Illouz gegenüber der NZZ. Ist uns die Leidenschaft abhanden gekommen? Wenn im Parlament in einer vierstündigen Debatte über die Defini- tion der Ehe gestritten wird, vermittelt das tatsächlich diesen Eindruck. Der Niedergang der Liebe zu Zeiten des Kapitalismus aber ist eine Mär. Menschen lieben immer noch wie die Nonne im Mittelalter. Aber die Verschränkung von Konsum und Liebe ist heute da, Menschen lieben anders. Und nicht alle Gefühle kosten, das zeigt uns die Nonne: Schreiben Sie wieder Liebesbriefe. Weihnachten ist immer ein guter Anfang, das war auch schon vor 2000 Jahren so.

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