×

Zahl der Sozialhilfeempfänger nimmt erstmals wieder zu

Trendwende in Graubünden. Jahrelang waren die Fallzahlen für Sozialhilfeempfänger rückläufig oder stagnierten. 2011 nahmen sie erstmals wieder zu. Besonders markant ist der Anstieg in Chur. Über die Gründe kann nur gemutmasst werden.

Südostschweiz
25.05.12 - 02:00 Uhr

Von Stefan Bisculm

Chur. – Durchschnittlich 460 Sozialhilfedossiers hatten die Sozialen Dienste Chur in den letzten Jahren betreut. Nach einer mehrjährigen Stagnation ist die Zahl im letzten Jahr sprunghaft auf 503 angestiegen. Dies kann dem aktuellen Geschäftsbericht des Stadtrats entnommen werden. Der Aufwärtstrend scheint damit aber noch nicht abgeschlossen. Mitte Mai betreuten die Sozialen Dienste Chur gemäss Amtsleiterin Annina Meinherz bereits 519 Dossiers.

Woran liegts?

Mögliche Gründe für den jüngsten Anstieg gibt es viele. Meinherz sieht eine Ursache in der härteren Gangart der Invalidenversicherung nach der 5. und 6. IV-Revision sowie Einschränkungen bei der Ausrichtung von Ergänzungsleistungen. Eine andere Erklärung liefert die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, das vom Schweizer Stimm- volk Ende 2010 beschlossen wurde. Durch die Revision wurden gemäss Geschäftsbericht des Stadtrats per Ende März 2011 rund 40 Personen von der Arbeitslosenkasse ausgesteuert. Meinherz geht davon aus, dass von diesen Betroffenen etwa zehn im Laufe des Jahres Sozialhilfe beantragen mussten. «Doch keine dieser Erklärungen lässt sich abschliessend beweisen, es bleiben letztlich allgemeine Aussagen», sagt Meinherz.

Prekäre Arbeitsverhältnisse

Die Sozialvorsteherin der Stadt Chur geht mit anderen Experten einig, dass nur mehrere Faktoren zu der Trendwende geführt haben können. Sie ist überzeugt, dass auch die Verbreitung von sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen einer dieser Faktoren ist. Anstellungen im Stundenlohn, unregelmässige Arbeiten auf Abruf und Anstellungen im Tieflohnbereich sind jedoch keine aktuellen Phänomene. Eine Zunahme solcher Arbeitsformen ist seit dem Jahrtausendwechsel zu beobachten.

Andrea Ferroni, Leiter des Sozialamts Graubünden, verweist noch auf einen weiteren Umstand, der im Zusammenhang mit der Zunahme der Churer Fallzahlen stehen könnte. Viele Leute vom Land, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, würden jeweils in die Anonymität der Stadt abwandern. «Diesem Trend sind alle Agglomerationen in der Schweiz ausgesetzt, auch Chur kann sich dem nicht entziehen.» Die Zahlen sprechen diesbezüglich eine klare Sprache. Während die kantonale Sozialhilfequote im Jahr 2010 bei 1,1 Prozent lag, bezogen in Chur 2,6 Prozent der Bevölkerung Sozialhilfe.

Zunahme im ganzen Kanton

Die erstmals wieder steigende Zahl von Sozialhilfeempfängern ist aber nicht bloss ein Churer Phänomen. Obwohl für den ganzen Kanton für das Jahr 2011 noch keine definitiven Zahlen vorliegen, rechnet Ferroni aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Daten mit einer leichten Zunahme. «Seit 2005 gingen die Sozialhilfefälle zurück. Im letzten Jahr dürfte sich der Trend gedreht haben.»

Schweizweit nahm die Zahl der Sozialhilfeempfänger bereits im Jahr 2010 erstmals wieder zu. Dies geht aus einer Medienmitteilung hervor, welche das Bundesamt für Statistik gestern publizierte. Die Zunahme betrug 0,4 Prozent. Die Ausgaben pro Empfänger stiegen durchschnittlich aber um 9,5 Prozent. Zahlen für 2011 sind noch nicht verfügbar.

Die Sozialen Dienste der Stadt Chur konnten im letzten Jahr sechs Missbrauchsfälle aufdecken. Wie es im Geschäftsbericht des Stadtrats heisst, wurde in vier Fällen als Sanktion die Sozialhilfe gekürzt. Einmal wurde die Sozialhilfe ganz eingestellt, und einmal kam es zu einer Strafanzeige wegen Betrugs. Das Strafverfahren in diesem Fall läuft noch.

Erstmals stand im letzten Jahr bei schwerem Verdacht auf Sozialhilfemissbrauch die Möglichkeit offen, einen Privatdetektiv mit Nachforschungen zu betreuen. Diese Massnahme wurde im letzten Jahr in einem Fall ergriffen, wie Amtsleiterin Annina Meinherz auf Anfrage erklärte. Die Ermittlungen in diesem Fall laufen noch. (bcm)

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu MEHR