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Wie eine Wespe Bergells Kulturgut zu zerstören droht

Die Kastanienbäume im Bergell sind krank. Zu einem parasitären Pilz gesellt sich nun seit etwa vier Jahren die Gallwespe, die den Forstwarten der Region Kopfzerbrechen bereitet.

Südostschweiz
30.07.14 - 02:00 Uhr

Virginia ritter

Im Bergell sind die Wespen los. Genauer gesagt die Edelkastaniengallwespe, die, ursprünglich aus China stammend, seit einigen Jahren auch in Graubünden ihr Unwesen treibt. Denn die ausschliesslich weiblichen Insekten leben von den Edelkastanienbäumen in Castasegna, Soglio oder Bondo, die sie als Brutplätze verwenden.

«Zu Beginn wurde die Gallwespe im Tessin festgestellt, das war im Jahr 2009. Bei uns im Bergell ist sie seit 2010 zu finden», erklärt der Bergeller Forstrevierleiter Andrea Giovanoli. Am Anfang waren nur einzelne Bäume betroffen, doch seit letztem Jahr gäbe es keinen Kastanienbaum mehr, der nicht vom Fuss bis zur Spitze befallen ist. Wieso der Befall überhaupt ein Problem darstellt, erklärt der Fachmann wie folgt: «Die Gallwespen setzen ihre Eier in den Knospen der Kastanienbäume ab, die schon für das nächste Jahr bereit sind. Die geschlüpften Larven regen den Baum zur sogenannten Gallenproduktion an, worin sich die Wespenlarven anschliessend niederlassen, bis sie wiederum schlüpfen. Danach leben die Wespen noch knappe zwei Wochen, innerhalb deren sie wieder Eier legen.»

Durch die Gallen werde dem Baum jedoch Zucker entzogen, der wichtig für das Wachstum der Früchte, also der Kastanien, ist. Weniger Blätter bedeuten demnach weniger Fotosynthese, dies führt zu weniger Zucker, was schliesslich dazu führt, dass weniger oder gar keine Kastanien wachsen.

Wespen gegen Wespen

In Castasegna sind die Schäden an den Bäumen deutlich sichtbar. «Bei einem gesunden Baum sollte es nicht möglich sein, durch das Blätterdach zu schauen», meint Giovanoli und macht sogleich die Probe aufs Exempel. Und tatsächlich, auch der relativ dichte Baum lässt den Himmel durchscheinen.

So schlimm wie im Tessin und in Italien sei es noch nicht, ergänzt er. Dort, wo die Wespen vermutlich von Japan eingeschleppt wurden, seien die wirtschaftlichen Schäden schon enorm. «In Italien hat man nun auch eine – ebenfalls aus China stammende – Schlupfwespe ausgesetzt, um dem Befall Herr zu werden», so der Forstrevierleiter. Die Schlupfwespe lege ihre eigenen Eier in die Gallen ab, die daraus schlüpfenden Larven würden die Gallwespenlarven dann sofort auffressen.

«In der Schweiz wurde der Einsatz dieser Insekten verboten, was ich auch unterstütze, solange es noch keine Studien zu deren Wirkung gibt», betont Andrea Giovanoli. Jede neue Art könne das Ökosystem beeinflussen, und die Schlupfwespe könnte ebenso gut einheimische Nutzinsekten verdrängen.

So wie es aussieht, wird die Schlupfwespe trotzdem den Weg in die Bündner Wälder finden. «Wir sind ja nur 20 bis 30 Kilometer von der italienischen Grenze entfernt», sagt der Förster. Und wenngleich die Kastanienbaumbewirtschaftung laut Giovanoli wirtschaftlich nicht immens wichtig ist, für das Ökosystem, die kulturelle Vielfalt und für den Tourismus sei sie trotzdem bedeutend. «Heute lebt niemand mehr von der Kastanienproduktion, doch wenn es sie nicht mehr geben würde, wäre das ein grosser Verlust für das Bergell.»

Wichtig für das Bergell

Nicht nur die Gallwespe macht den Kastanien das Leben schwer. Neben zu feuchtem Wetter schadet auch der Kastanienrindenkrebs, eine durch den parasitären Schlauchpilz hervorgerufene Krankheit den teils mehrere 100 Jahre alten Bäumen. «Dieser ist zurzeit jedoch das kleinere Problem», so Giovanoli.

Sogar der Wald selber schade den Kastanien, denn die vor etwa 2000 Jahren von den Römern eingeführten Bäume sind keineswegs eine dominante Art im Bergell. Obwohl sehr widerstandsfähig, weichen sie, wenn nicht gepflegt, langsam den anderen Laubbäumen. «Von den 70 Hektaren Kastanienwald sind nur etwa 30 bewirtschaftet. Jetzt aber, nachdem sie lange Zeit vernachlässigt wurden, kümmern sich nun wieder vermehrt junge Bauern um die Kastanienselven», freut sich Andrea Giovanoli. Wenn sich nun aber grössere Probleme mit der Gallwespe einstellen, könne er sich jedoch vorstellen, dass einige wieder aufhören würden. «Die Pflege der Kastanienselven ist sehr intensiv, da steckt enorm viel Arbeit dahinter.»

Andrea Giovanoli ist sich noch nicht sicher, wie die Zukunft der Kastanienbäume im Bergell aussieht. «Es tut schon weh, die über Generationen gepflegten und gehegten Bäume so zu sehen, ohne etwas machen zu können.» Einerseits hofft er, dass sich die Bäume ein weiteres Mal als widerstandsfähiger erweisen, die Situation im Süden zeige aber auch, dass es noch viel schlimmer kommen kann. «Worauf ich am meisten baue, ist, dass einheimische Insekten das Problem in den Griff bekommen.»

Ob es dieses Jahr überhaupt genug Kastanien geben wird, kann Andrea Giovanoli noch nicht sagen, aber: «Zumindest können sie bedenkenlos gegessen werden, da sich der Befall der Gallwespen auf die Blätter und Äste der Kastanienbäume beschränkt.»

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