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Vom Dauererfolg zum Pflegefall

Publicitas Die Publigroupe verkauft Publicitas und trennt sich von ihrem Kerngeschäft der Anzeigenvermittlung. Jetzt werden die Machtverhältnisse im Schweizer Zeitungswesen umgewälzt.

Südostschweiz
03.04.14 - 02:00 Uhr

KARL LÜÖND*

wirtschaft@luzernerzeitung.ch

Spätestens seitdem die NZZ-Medien­gruppe entschieden hat, die Zusammenarbeit mit der Publigroupe auf 2015 aufzulösen, ist klar: Das Pachtsystem – sprich die Verpachtung des Anzeigenteils einer Zeitung, was während mehr als hundert Jahren die Vielfalt der Schweizer Tages- und Lokalpresse erhalten und gleichzeitig die legendäre Finanzkraft der Publigroupe begründet hat – steht an einem Wendepunkt. Gestern wurde nun bekannt, dass das Werbeunternehmen Publigroupe seine Tochter Publicitas an das deutsche Unternehmen Aurelius verkauft. Der Verkaufspreis liege im niedrigen zweistelligen Millionen-Franken-Bereich. Die Publigroupe trennt sich damit komplett vom klassischen Inserateverkauf. Die Publigroupe will sich in Zukunft auf das digitale Geschäft konzentrieren. Die Aktionäre der Publigroupe und die Wettbewerbsbehörden müssen dem Verkauf aber noch zustimmen.

Bewegte Geschichte

Der Verkauf der Publicitas nach Deutschland markiert einen Wendepunkt in einem langen Kapitel der Schweizer Zeitungsgeschichte. Als erste Pachtzeitung kam «Der Bund» im Jahre 1873 zu Haasenstein & Vogler. So hiess die Vorgängerfirma der Publicitas. Den lateinisch klingenden Namen Publicitas, was ursprünglich die Telegrammadresse war, nahm sie erst 1916 an, um den Anklang an die deutsche Herkunft loszuwerden. Haasenstein & Vogler war aus einer kleinen Buchhandlung in Altona hervorgegangen, die Zusatzgeschäfte suchte, und verlegte sich ab 1855 auf die Anzeigenvermittlung. Ab 1866 baute für sie der Sprachlehrer Ludwig Georg in Basel einen Schweizer Zweig auf. Sein Sohn Charles W. Georg erwies sich als glänzender Organisator und Geschäftsmann.

Im Jahr 1870 wurde der Hauptsitz nach Genf verlegt, weil Georg in der dortigen Privatbank- und Versicherungsszene Financiers gefunden hatte. 1888 konnte er sich an der Mutterfirma beteiligen. 1890 kaufte er die Schweizer Filiale seinen deutschen Partnern ab und expandierte schnell nach Italien und Frankreich. Dank der soliden Kapitalisierung gewann Charles W. Georg das Vertrauen der Verleger. Nach verschiedenen Sanierungsschritten in den 1920er- und 1930er-Jahren wurde die von Anfang an börsenkotierte Gesellschaft von drei Aktionärsgruppen, alles ehemaligen Mitarbeitern, beherrscht: den Familien Lanfranchi, Hegnauer (später Borter) und Gerstenhauer.

Starkes Wachstum nach 1945

Ihre goldenen Zeiten erlebte die Publicitas nach 1945, als die Werbung in der Schweiz jährlich um 10 bis 15 Prozent wuchs. Mit einer Strenge, die nach der Verschärfung des Wettbewerbsrechts nicht mehr denkbar war, sicherte sie die Anzeigentarife und damit das Überleben vieler kleiner und mittlerer Zeitungen. Da sie in den 1990er-Jahren auch die Konkurrenten OFA und Assa absorbierte, war sie mit Abstand marktführend unter den Anzeigenvermittlern im Zeitungsbereich. Bei den Zeitschriften dagegen dominierte die Eigenregie, ebenso bei den grösseren Titeln. In den letzten zwanzig Jahren lösten sich aber nach und nach bedeutende Verlage (u.?a. «Südostschweiz», AZ und «Basler Zeitung») aus ihren Pachtverhältnissen.

Einen Teil seiner hohen Gewinne investierte das Unternehmen in erstklassige Liegenschaften, die es wo immer möglich selbst nutzte. Das Portefeuille erreichte zeitweise – die stillen Aufwertungsgewinne nicht mitgerechnet – über 400 Millionen Franken und begründete die legendäre Finanzkraft der «P», wie sie in der ganzen Branche respektvoll genannt wurde. Zudem war sie «die Bank der Verleger», die bei Engpässen, Nachfolgelösungen oder Umstrukturierungen massiv mit Darlehen und vergünstigten Konditionen half – immer um den Preis der Verlängerung der lukrativen Pachtverträge, oft auch gegen Minderheitsbeteiligungen. Unter der diskreten, aber wirksamen Regie der Publicitas wurden in den 80er- und 90er-Jahren unter anderem auf den umkämpften Presseplätzen Luzern, St. Gallen oder Genf die Zeitungsmärkte konsolidiert.

Die hohe Rendite in der Schweiz half in den 1990er-Jahren auch massive Verluste in Italien zu decken, wo die Publicitas-Tochterfirma wegen hoher Garantien in Schwierigkeiten geraten war und sich am Ende aus dem Markt zurückzog.

Jahrzehntelang suchten das Management und der – freilich oft uneinige – Verwaltungsrat der Publicitas (seit 1997 Publigroupe) nach Diversifikationen, um die starke Abhängigkeit von den Schweizer Verlegern zu vermindern. Erfolgreich war sie beim Aufbau des Geschäfts mit Telefonverzeichnissen und entsprechenden digitalen Anwendungen (local.ch). Nicht zum Ziel kam die Publicitas dagegen beim Versuch, die Allgemeine Plakatgesellschaft zu übernehmen. 1999 wurde auch die Idee einer Fusion mit der Swisscom aus politischen Gründen fallen gelassen.

Trends nicht konsequent genutzt

Das hoch rentable Pachtgeschäft erwies sich mehr und mehr als strategische Falle. Die meisten Pachtverleger reagierten negativ, wenn sich der Medienkonzern neuen Ideen und Strategien zuwandte. So kam es, dass die Publicitas im Lauf der Jahrzehnte die neuen Trends in der Medienbranche zwar früh erkannte und bearbeitete, aber in der Realisierung – jedenfalls auf dem dominierenden Schweizer Markt – aus Rücksicht auf die Verleger nur mit angezogener Handbremse unterwegs war. Aus diesem Grund lehnte es die Firmenführung zum Beispiel wiederholt ab, in den Bereich Radio- und Fernsehwerbung zu expandieren. Erfolgreich war hingegen der frühe Aufbau eines Immobilienportals in der Westschweiz (Swissimo), das aber früh an den Pachtverleger Lamunière überging und später samt dessen Schweizer Beteiligungen von der Tamedia geschluckt wurde.

Übernahme gescheitert

Über Jahrzehnte hinweg war das Aktionariat der Publicitas (ab 1989 Holding, ab 1997 Publigroupe) zersplittert und die Aktie unterbewertet. Dies verleitete 1988 den Genfer Spekulanten Jürg Stäubli zum Versuch einer feindlichen Übernahme, der aber – wenn auch mit einem schönen Gewinn für den Angreifer – scheiterte. Die drei in einem Pool verbundenen Aktionärsgruppen, die zusammen annähernd die Hälfte der Stimmen und damit praktisch die Firma kontrollierten, waren einander in tiefem Misstrauen verbunden. Die Uneinigkeit ging so weit, dass die Familie Lanfranchi 1991 ihre rund 20 Prozent heimlich dem «Tages-Anzeiger» anbot. Der Schweizer Verleger Hans-Heinrich Coninx stoppte damals die Transaktion in letzter Minute aus unternehmens- und pressepolitischen Gründen, wie er auf Anfrage bestätigte.

Das Management des Anzeigenkonzerns hatte längst erkannt, dass nach Beginn der Medienkrise im Jahr 2002 die Zukunft des Unternehmens in der digitalen Welt und auf dem internationalen Feld lag. Ein frühes Kind des Internet-Gründungsfiebers war Real Media, gegründet 1994 in den USA und – mehrere Jahre vor Google – einer der Pioniere für Online Target Advertising. (Zielgruppenwerbung).

Ab 1995 stieg die Publicitas schrittweise bei Real Media ein und überraschte im Februar 2000 die Wirtschaftswelt mit der Nachricht, sie fusioniere ihre Internet-Aktivitäten, insbesondere ihre Entwicklungsgesellschaft MMD, mit der Real Media und übernehme 70 Prozent des Kapitals des neuen Unternehmens. Zur gleichen Zeit wagte Publigroupe eine zweite Grossinvestition in den USA und kaufte die Panoramic-Werbeagenturgruppe. Als zu der sich abkühlenden Werbekonjunktur noch die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001 kamen, verlor die Publigroupe mit ihren beiden grossen USA-Projekten über 200 Millionen Franken.

Erdbeben als Dauerzustand

Seit Beginn der Zeitungskrise im Jahr 2002 lieferte die einstige Branchen-Grossmacht mehrheitlich beunruhigende Nachrichten. Die Zukunft der Publicitas wird wohl auch der neue Eigentümer der zunehmend automatisierten Vermarktung von Werberaum über alle Mediengattungen hinweg sehen. Seit 2002 sind bei der Publigroupe einerseits Arbeitsplätze abgebaut, anderseits in neuen Projekten zusätzliche geschaffen worden. Der Minus-Saldo beträgt rund 1000, die personellen Konsequenzen der jüngsten Entwicklungen nicht eingerechnet. Weltweit beschäftigt Publicitas aktuell rund 860 Mitarbeitende.

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