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Uneinigkeit seit 30 Jahren

Vor 30 Jahren ist die Einheitssprache Rumantsch Grischun kreiert worden. Die Sprache provoziert die kleinste Schweizer Sprachgruppe nach wie vor.

Südostschweiz
06.01.12 - 01:00 Uhr

Von Ruedi Lämmler

Es gab Streitereien scheinbar ohne Ende. Die Schriftsprache Rumantsch Grischun trennte nicht nur gute Freunde und Nachbarn, sie riss sogar Gräben innerhalb von Familien auf. Der Grosse Rat reagierte im Dezember – nicht zuletzt, um die Gemüter zu beruhigen. In einem vielbeachteten Beschluss entschied er, Schulbücher für die Volksschule in den romanischen Gemeinden nicht mehr nur in Rumantsch Grischun zu drucken, sondern auch wieder in den fünf Idiomen. Das Parlament stiess seinen Entscheid von 2003 um, Schulbücher ausschliesslich in Rumantsch Grischun herauszugeben.

Die Situation im sprachlichen Mikrokosmos in Graubünden mit 35 000 Rätoromaninnen und Rätoromanen weist bisweilen babylonische Züge auf. Die Tageszeitung «La Quotidiana» ist Ausdruck dieser bunten Sprachenwelt. Sie publiziert in den fünf romanischen Idiomen sowie in Rumantsch Grischun. Und die Annoncen erscheinen in Deutsch. Rumantsch Grischun soll in der rätoromanischen Sprachenvielfalt eine Brückenfunktion erfüllen: dem Romanischen mehr Präsenz in allen Bereichen des täglichen Lebens verschaffen, Identität stiften und die vierte Landessprache stärken.

«Der gute Geist von Laax»

Die Idee, fünf Idiome unter eine Schriftsprache zu stellen, sei mit dem Parlamentsbeschluss ins Gegenteil verkehrt worden, monieren Kritiker. Gleichwohl hat der Entscheid die Situation entspannt. Es sei ruhig geworden, der Konflikt um Rumantsch Grischun habe sich extrem belastend ausgewirkt, sagt Regierungsrat Martin Jäger. Rumantsch Grischun in der Schule sei immer ein heikles Thema gewesen, betont Andreas Gabriel vom Sprachen-Dachverband Lia Rumantscha. Von den über 30 Gemeinden, die sich für die Einheitssprache als Schulsprache entschieden, sind inzwischen mehr als ein halbes Dutzend zu den Idiomen zurückgekehrt. Eine Ausnahme bildet Laax, wo sich die Gemeindeversammlung für den Beibehalt der Schriftsprache in der Schule aussprach. Die Journalistin Maria Cadruvi, die sich in der Impulsgruppe «pro rumantsch» für die Einheitssprache engagiert, hofft, dass sich «der gute Geist von Laax» in anderen romanischen Gemeinden manifestiert.

Die Rückeroberung von Terrain in der Schule durch die Idiome bedeutet jedoch keinen Kurswechsel in der Sprachenpolitik des Kantons Graubünden und des Bundes. Der Bund verwendet Rumantsch Grischun schon seit 1986 als Amtssprache, der Kanton Graubünden seit 2001. Das werde so bleiben, sagt Regierungsrat Jäger.

Rätoromaninnen und Rätoromanen werden laut Jäger in den nächsten 50 Jahren mit ihrem lokalen Idiom und Rumantsch Grischun konfrontiert. Der Kanton hat weder Geld noch Übersetzungskapazitäten, alle Schulbücher in den Idiomen herauszugeben. Zumindest passiv sollen Schülerinnen und Schüler mit Rumantsch Grischun vertraut werden.

Keinen Einfluss hat der Parlamentsbeschluss mit den Schulbüchern auf die Medien. Mariano Tschuor, Direktor von Radiotelevisiun Svizra rumantscha RTR, spricht von einer «klaren Strategie» seines Hauses. Die SRG-Senderkette sendet in Rumantsch Grischun und in den Idiomen. Rumantsch Grischun werde in den Nachrichten als gelesene Schriftsprache eingesetzt, ähnlich wie das Hochdeutsche in den Nachrichtensendungen von Radio DRS. RTR hat laut Tschuor mit dieser Aufteilung gute Erfahrungen gemacht, bei den Mitarbeitenden wie beim Publikum.

Guido Jörg, Geschäftsleiter der rätoromanischen Nachrichtenagentur ANR, sagt, dass Rumantsch Grischun angewandt werde, wenn sich eine Publikation an die gesamte Rumantschia richte. Ansonsten gelte für die produzierten Texte: aus der Region für die Region im entsprechenden Idiom.

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