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«So bereue ich nicht, diese Reise gemacht zu haben»

Zwölf Jahre lang hat Donat Rischatsch die Obervazer Auswanderergeschichte erforscht und dabei eine immense Fülle an Material zusammengetragen. Nun legt er seine Funde in Buchform vor – ein Panorama der Emigration und Rückkehr.

Südostschweiz
22.12.14 - 01:00 Uhr

Von Jano Felice Pajarola

Vaz/Obervaz. – Er schrieb es auf der «Pescatore», Mitte Oktober 1849, irgendwo zwischen Le Havre und New York. «Während Ihr zu Hause für mich betet, seufzet, weinet und manche Träne trocknet … wandle ich zwar von manchem Sturm erschüttert, aber sicher auf dem Atlantischen Ozean.» Was dann folgt, Seite um Seite, vollendet am 12. November jenes Jahres, gilt heute als eine der bedeutendsten Quellen zur Auswanderungsgeschichte von Obervaz: der «Atlantikbrief» von Hilarius Rischatsch (1811–1881). Albulataler Bezirksarzt war er gewesen, später ärztlicher Leiter des Bads Alvaneu, ein liberal Gesinnter, der in seiner Heimat etwas bewegen wollte. Ohne Erfolg, dafür mit «zuviel Verdruss. Um mehr Mut und Lebenslust zu gewinnen, ging ich also hinaus.» Es sei sicher bequem, daheim am warmen Ofen zu sitzen, bei «genügend täglichem Brote», meinte Rischatsch. «Derjenige ist aber auch nicht zu verdammen, der etwas mehr sucht als das tägliche Brot.»

Weniger Steine und Berge

Der Arzt machte sich auf nach Amerika, nach Milwaukee, zog später nach Dubuque weiter, hatte Familie, Kinder, war als Mediziner hoch angesehen. Nach Obervaz schrieb er: «Auch hier ist Welt, nur sieht man hier nicht so viele Steine und Berge.»

«Auch hier ist Welt»: Dass Donat Rischatsch, ein Emser mit Obervazer Wurzeln, diesen Satz als Titel für sein Magnum Opus über die Auswanderergeschichte des Dorfs gewählt hat, ist kein Zufall. Ein Porträtbild des historischen Namensvetters Hilarius stand am Anfang einer letztlich zwölfjährigen Recherche, an deren Schluss das eben erschienene Buch stehen sollte. 2002 stiess Rischatsch auf das Gemälde, das den Arzt mit 33 Jahren zeigt – und was zuerst als Familienforschung begann, mündete schliesslich in eine umfassende Darstellung der Auswanderung aus Obervaz im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das «Herz» der aufgespürten Dokumente: rund 240 Auswandererbriefe, die meisten davon in Romanisch.

Auf über 330 grossformatigen Seiten und mit der Hilfe unzähliger Fotos bietet Sekundarlehrer Rischatsch einerseits viel Basiswissen zur damaligen Emigration aus dem Albulatal, andererseits kommt natürlich vor allem das Schicksal der Auswanderer Person um Person zur Sprache, nach den Reisezielen geordnet. 25 Männer, Frauen und Familien sind es, über die der Autor ausführlich berichtet, da ist der erfolgreiche Holzhändler und «Obervazer Goldonkel» Jakob Fidel Margreth, der vom Pech verfolgte Cafetier Bernard Candrian, der in die Verbannung geschickte Engelhard Candraja oder eben Hilarius Rischatsch, um nur wenige Beispiele zu nennen.

«Das übersteigt alle Begriffe»

Es gibt glückliche Lebensgeschichten und tragische, es gibt Rückkehrer und solche, die ihre Heimat nie mehr wiedersehen – wie im Fall des Doktors in Dubuque. Nach der langen Überfahrt mit der «Pescatore» war der 8. November 1849 sein «Erlösungstag», er kam in New York an. Einen Tag später durfte er aus der üblichen Quarantäne weiter in die Stadt, er war begeistert: «Das bewegte Leben, das Kommen und Jagen, das goldene Glück zu erjagen – das übersteigt alle Begriffe.» Er war sich bereits sicher: Sollte er mit leeren Händen zurückkehren müssen, «so bereue ich nicht, diese Reise gemacht zu haben.» Dank Namensvetter Donat kann man nun an dieser und anderen Geschichten teilhaben.

Donat Rischatsch: «Auch hier ist Welt». 336 Seiten. 35 Franken. Zu beziehen beim Autor (d.rischatsch@bluewin.ch) oder bei Foto und Papeterie Deubelbeiss auf der Lenzerheide.

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