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Scham, Blockaden und gelöste Knöpfe

V.C.* ist eine von rund 20 000 Menschen in Graubünden, die nicht oder nur ungenügend lesen und schreiben können. Ihr Leben lang hat sie sich für ihre Schwäche geschämt. Heute besucht sie Kurse, um ihr Problem in den Griff zu bekommen.

Südostschweiz
16.01.11 - 01:00 Uhr

Von Rahel Schneppat

Chur. – «Man kann sich fast nicht vorstellen, wie anstrengend es war und wie viel Energie ich aufgewendet habe, um meine Lese- und Schreibschwäche vor den Menschen in meinem Umfeld zu verbergen», erzählt V.C., im Gespräch mit der «Südostschweiz am Sonntag». «Ich habe Strategien entwickelt, um zu verstecken, dass ich nicht gut lesen und schreiben kann; alle Tätigkeiten, die damit zu tun haben, habe ich an andere abgegeben, damit auf keinen Fall jemand bemerkt, dass ich ein Problem habe.» Dies, obwohl sie im Grunde genommen lesen und schreiben kann – nur einfach nicht so flüssig, schnell und fehlerfrei wie andere Leute.

«Ich habe nur meine negativen Seiten gesehen»

Verstecken müssen hat die heute 68-Jährige, die Zeit ihres Lebens berufstätig war, lange: Bereits in der Primarschule begann sich ihre Lese- und Schreibschwäche, sogenannten Illetrismus, zu entwickeln, geblieben ist sie ihr bis heute. 2010 hat sie den ersten Schritt gewagt, dem Problem beizukommen und einen «Besser lesen und schreiben»-Kurs begonnen (siehe Kasten).«Der Kurs ist super», schwärmt V.C. «Es ist so toll, wenn man merkt, dass sich endlich der Knopf löst.» Der schwere Rucksack, den sie aus Scham über ihr Manko mit sich herumtrage, sei bereits viel leichter. Und es tue gut zu wissen, dass andere dieselben Probleme haben. «Ebenfalls geholfen hat es mir zu sehen, wie andere mit ihrer Schwäche umgehen», so V.C. «Kürzlich meinte eine Mitschülerin, ihr Illetrismus störe sie gar nicht so arg.» Mit einem beeindruckenden Selbstbewusstsein habe sie vor der ganzen Klasse gesagt, sie habe halt andere Stärken. «Von diesem Standpunkt aus habe ich das noch gar nie betrachtet. Ich habe immer nur an meinem Makel herumstudiert und meine negativen Seiten gesehen.» Dass sie eigentlich sehr viel sehr gut könne, sei angesichts ihrer Scham völlig untergegangen.Bis zu dieser Erkenntnis war es aber ein langer Weg: «Ich bin romanischsprachig aufgewachsen», erzählt V.C.. «Als wir in der fünften Klasse Deutsch lernen mussten, hat mir das wahnsinnig viel Mühe bereitet.» Mit System, fast schon auf eine mathematische Herangehensweise, habe sie die Sprache lernen müssen. «Ich musste mich extrem auf die Grammatik konzentrieren, übers Gehör lernen konnte ich nicht, da war irgendwie der Wurm drin.» Vor lauter Anstrengung, die Sprache zu erlernen, seien das Lesen und Schreiben auf der Strecke geblieben.

«Ich war total blockiert»

Die weitere Schulzeit wurde für sie zur Tortur, denn ihre Schwäche blieb den Lehrern natürlich nicht verborgen. Statt ihre Schülerin zu unterstützen, zogen diese es aber vor, sie lächerlich zu machen und als «dumm» zu betiteln. «Daraufhin war ich natürlich total blockiert.» Eigentlich, sagt V.C., habe sie schon gewusst, dass sie nicht dumm sei. «Ich war nämlich eine gute Schülerin, nur mit Deutsch hats halt gehapert. Trotzdem habe ich mich unsäglich geschämt.»Noch heute sei es schwer, darüber zu sprechen, erst recht öffentlich gegenüber einer Zeitung. «Ich spreche darüber, weil ich anderen Leuten Mut machen will und weil ich ihnen sagen möchte, wie wahnsinnig erleichternd es ist, sich dem Problem zu stellen.» Wenn sie durch diesen Artikel auch nur einen einzigen Menschen dazu bewegen könne, einen «Besser lesen und Schreiben»-Kurs zu besuchen, «dann hat sich das schon gelohnt».

«Ich will anderen Leuten Mut machen»

Für V.C. kam der Wendepunkt, als sie im Fernsehen einen Politiker sah, der ganz offen zu seiner Leseschwäche stand. «Dass dieser Mann so offen darüber gesprochen hat und dass er trotzdem grossen Erfolg hat, das hat mich total beeindruckt. Kurz darauf habe ich in der Zeitung ein Inserat gesehen, in dem Kurse für Leute wie mich angeboten wurden, und mich sofort angemeldet.»Damit ist V.C. eine von wenigen, welche die Angelegenheit selbst in die Hand genommen haben. «Das Thema ist extrem schambehaftet, kaum einer schafft es, das Problem von sich aus anzugehen», sagt Sandra Manzanell, Logopädin und Lehrerin von V.C. «Deshalb ist die Unterstützung von Leuten im Umfeld der Betroffenen wesentlich.» Wichtig sei es, Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche vorurteilsfrei und verständnisvoll auf ihr Problem anzusprechen und sie darauf hinzuweisen, dass Abhilfe möglich ist. «Und dass es für ihr Leben eine grosse Erleichterung bedeutet.»

* Name ist der Redaktion bekannt.

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