×

Protestanten marschieren für ihre Privilegien

Der ewige Konflikt zwischen den beiden religiösen Lagern in Nordirland, Protestanten und Katholiken, entlädt sich seit einigen Tagen in Gewalt. Ursache dafür ist die Verlagerung der politischen Macht hin zu den Katholiken.

Südostschweiz
06.09.12 - 02:00 Uhr

Von Ralf Sotscheck

Belfast. – Seit Sonntagnacht brennen im Norden von Belfast Autos, Randalierer bombardierten die Polizei mit Benzinbomben, Flaschen und Ziegelsteinen. Obwohl die Polizei Plastikgeschosse und Wasserwerfer einsetzte, bekam sie die Situation nicht unter Kontrolle, mehr als 60 Beamte wurden verletzt. Nach der nun dritten Nacht mit gewaltsamen Ausschreitungen in der nordirischen Haupstadt hat die gerade aus den Parlamentsferien zurückgekehrte nordirische Regierung eine Notstandssitzung anberaumt.

Zur Gewalt zurückgekehrt

Hinter den Krawallen stecken die paramilitärischen loyalistischen Organisationen Ulster Volunteer Force (UVF) und Ulster Defence Association (UDA). Beide befinden sich zwar offiziell im Waffenstillstand, doch die Polizei befürchtet, dass die beiden Organisationen nach internen Säuberungsaktionen wieder gewaltbereit sind. Ihre Sprecher bestreiten, irgendetwas mit den Krawallen zu tun zu haben, kritisierten allerdings die für die Genehmigung der Paraden zuständige Kommission, weil sie einen Marsch katholischer Republikaner letzten Samstag genehmigt hatte.

Eine Woche zuvor war eine protestantisch-loyalistische Parade umgeleitet worden, weil die Strecke trotz eines Verbots an der katholischen St.-Patricks-Kirche im Norden der Stadt vorbeiführte. Die Beteuerungen, man habe nicht gewusst, dass es sich um eine katholische Kirche handelt, sind unglaubwürdig. Zwar sind in Nord-Belfast katholische und protestantische Viertel wie ein Flickenteppich angeordnet, doch jeder weiss, wo die Grenzen verlaufen.

Machtverschiebung zu Katholiken

Die Krawalle haben tiefere Ursachen. Seit Generationen gingen die protestantisch-loyalistischen Arbeiterkinder im Alter von 16 Jahren von der Schule und erhielten Jobs in der Schiffswerft Harland and Wolff oder der Rüstungsfabrik Shorts, die für Katholiken jeweils verschlossen blieben. Diese Jobs gehören der Vergangenheit an, aber die Anti-Bildungs-Kultur ist im Gegensatz zur katholischen Seite erhalten geblieben. Die Loyalisten sehen sich als Verlierer des Friedensprozesses, der Nordirland nach jahrzehntelanger Herrschaft protestantischer Parteien eine Machtbeteiligung katholischer Parteien beschert hat.

So hat sich bisher keine Klassenpolitik entwickelt, obwohl Jobs auf beiden Seiten Mangelware sind. Ihrer Privilegien beraubt, beharren die Loyalisten – angeführt vom streng anti-katholischen Oranier-Orden – auf ihre Paraden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass ihnen das Land nach wie vor gehört. 3000 Paraden veranstaltet der Orden jedes Jahr, die meisten davon verlaufen konfliktfrei, doch einige führen durch katholische Viertel. Es seien die traditionellen Strecken, sagen die Oranier, denn früher hätten dort Protestanten gewohnt, bevor der katholische Bevölkerungsanteil gestiegen sei. Es sind diese demografischen Veränderungen, die den Protestanten Angst machen, weil sie sich schon in zehn Jahren zur Minderheit in Nordirland gewandelt haben könnten.

Heisser September

Für den 29. September hat der Orden eine weitere Parade geplant. Somit findet diese am 100. Jahrestag der Ablehnung einer irischen Regionalregierung statt. Die Polizei rechnet mit 20 000 Teilnehmern und 100 Kapellen. Die Parade wird wieder an einem kritischen Ort vorbeiführen – der katholischen St.-Patricks-Kirche in Nord-Belfast.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu MEHR