×

«Platzspitzbaby» will Kindern mit gleichem Schicksal helfen

«Platzspitzbaby» heisst die Biografie von Michelle Halbheer, die bei ihrer schwer drogenabhängigen Mutter aufwuchs. Mit ihrem brutalen Schicksal bewegt sie auch viele Glarner.

Südostschweiz
15.11.14 - 01:00 Uhr

Von Eliane Künzler

Glarus. – «Mutter setzte sich vor meinen Augen einen Schuss. Der Körper knickte weg, der Kopf fiel nach hinten, und bereits lallend fragte sie: ‘Ist es das, was du gewollt hast?’ Ich begann, sie zu verabscheuen.» Ein Zitat aus Michelle Halbheers Buch «Platzspitzbaby». Als Leibeigene ihrer Mutter musste sie die Drogenhölle stumm und willenlos ertragen.

Mit einem Witz eröffnete Moderator Urs Heinz Aerni gestern Abend das Gespräch mit Michelle Halbheer, der Autorin des «Platzspitzbaby». Er bringt die Besucher in der fast überfüllten Buchandlung Wortreich in Glarus zum Lachen. Auch die 29-jährige Michelle Halbheer, eine zierliche Frau mit brauner Lockenmähne und braunen Augen, lacht laut. Sie wirkt extrem lebensfroh. Obwohl ihre schreckliche Kindheit von Hunger, Gewalt, Angst und Schuldgefühlen geprägt war. Mit einer Mutter, der die Drogen immer wichtiger als ihr eigenes Kind waren.

Ein Kind als bestes Hilfsmittel

Aus der «Lesung mit anschliessendem Gespräch» wird – wegen der SBB-Kollision mit Rindern (siehe Seite 3) – nur ein Gespräch. Denn die Zugstrecke Richtung Ziegelbrücke ist gesperrt, und es wird mit einem langem Heimweg gerechnet.

Aerni leitet den Abend, stellt Fragen und sorgt mit seinen Witzen, trotz des schweren Themas, für gute Stimmung. Schnell wird klar, dass die eingeplante Zeit viel zu kurz ist, denn Michelle Halbheer hat viel zu erzählen.

Ihr Buch ist mit viel Distanz geschrieben. Sie will nicht ihre Mutter schlecht darstellen, sondern zeigen, was die Drogen, die Sucht mit Menschen anrichtet. Und vor allem wie sehr die «Fixer-Kinder» darunter leiden. «Junkies sind wie Kinder: Sie versuchen, jede Kontrolle zu umgehen. Sie lügen, begehen Diebstähle, Verrat, um ihre Sucht zu befriedigen.»

Drogenabhängige bekämen viel mehr Unterstützung und Aufmerksamkeit als ihre Kinder. Geld und Zeit würden in die Abhängigen investiert – in ihre Kinder nicht. Michelle wurde mehrmals von der Behörde als bestes Hilfsmittel bezeichnet, damit ihre Mutter von den Drogen wegkommt.

Legale Drogen als Behandlung

Das Gespräch ist im vollen Gange. Alle Blicke, von alten und jungen Leuten, sind auf Michelle Halbheer gerichtet. Mit ihrer Geschichte, ihrer Art und Weise berührt sie die Zuhörer, regt zum Denken an. Jetzt dürfen alle Fragen stellen, sich am Gespräch beteiligen – was mit grossem Wissensdurst gemacht wird. «Ich will den Kindern helfen, die das gleiche Schicksal haben wie ich», antwortet Michelle Halbheer auf die Frage, woher sie ihre Motivation, ihr Feuer habe.

Im Publikum sitzen Leute mit eigenen Erfahrungen oder solche, die Drogensüchtige behandeln. Sie stellen gezielte Fragen, unter anderem über das Methadonprogramm. «Der Entzug von illegalen Drogen wird mit legalen Drogen behandelt», so Michelle Halbheer. Von legalen Drogen werde man ebenfalls abhängig. Dies stelle ein grosses Problem dar, äussert sich eine Zuhörerin.

Auch Michelle Halbheers Depressionen wurden mit Medikamenten behandelt. Als sie diese absetzen musste, hatte sie schwere Entzugserscheinungen, wollte nur noch sterben. «Das sind Absetzungserscheinungen, das ist kein Entzug», war die Erklärung der Ärzte.

Die Toleranz ist zu gross

Die Diskussion ist vielseitig, und das Buch wird zur Nebensache. Obwohl Eltern in der Sucht nicht einmal mehr für sich selbst verantwortlich sein könnten, blieben die Kinder in ihrer Obhut, sagt Michelle Halbheer. Die Toleranz sei viel zu gross. «Niemand von der Behörde will Verantwortung übernehmen», erklärt Michelle Halbheer. Man gehe das Risiko ein, einen Fehler zu machen, wenn man ein Kind wegnehme. Über Fehler werde gross berichtet in den Medien. So entstehe Angst, ein solches Risiko einzugehen.

Das Gespräch geht von eigenen Versuchungen mit Drogen über Medien bis zum Mensch als Maschine. Obwohl noch viele Fragen offen wären, muss die Diskussion beendet werden. Michelle Halbheer wird aber mit ihrer Geschichte noch lange für Gesprächsstoff sorgen.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu MEHR