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Pioniere nicht erst in 100 Jahren loben

Kaum ein Medium, das nicht das Jubiläum des 100-jährigen Bestehens des ersten – und bisher einzigen – Schweizerischen Nationalparks zum Anlass nimmt, dieses «Heiligtum der Natur» und den Pioniergeist der Gründerväter zu loben.

Südostschweiz
26.07.14 - 02:00 Uhr

Kaum ein Medium, das nicht das Jubiläum des 100-jährigen Bestehens des ersten – und bisher einzigen – Schweizerischen Nationalparks zum Anlass nimmt, dieses «Heiligtum der Natur» und den Pioniergeist der Gründerväter zu loben. Dabei wird gerne ausgeblendet, dass die totale Unterschutzstellung von damals 80 Quaratkilometern Fläche die eigentliche Antithese zum Expansionshunger des alpinen Tourismus bedeutete.

Heute, in einer Zeit, in der Begriffe wie Dichtestress und Burnout die Sehnsucht nach einem Stück unberührter Natur, in der die Zeit buchstäblich stillzustehen scheint, geradezu als Zukunftsmodell erscheinen lassen, wird vieles idealisiert und verklärt. Der Nationalpark ist auch heute noch in erster Linie ein Forschungsobjekt, bei dem eine der grossen Herausforderungen darin besteht, die Auswirkungen der zunehmenden Besucherströme möglichst gering zu halten. Noch heute gibt es eine einzige Übernachtungsmöglichkeit mitten im Park, und wer in der Chamanna Cluozza übernachten möchte, tut gut daran, bereits jetzt für nächstes Jahr einen Schlafplatz zu reservieren. Wer in den Nationalpark wandern geht, dem sei geraten, die Verpflegung im Rucksack mitzuführen, denn die Möglichkeiten, Geld auszugeben, sind sehr beschränkt.

Eine Studie, die eine jährliche Wertschöpfung von 20 Millionen Franken in direktem Zusammenhang mit dem Nationalpark belegt, lässt das touristische Potenzial nur erahnen. Im «Original-Nationalpark» lässt sich dieses durch den hohen Schutzfaktor aber nur sehr eingeschränkt nutzen. Ganz anders sieht das aus, wenn heute ein neuer Nationalpark buchstäblich auf der grünen Wiese geplant wird. Und genau diese Chance bietet sich heute im Gebiet um das Rheinwaldhorn oder eben Piz Adula, wie der Namensgeber des Parc Adula im italienischen und romanischen Sprachgebiet bezeichnet wird. Die vorgesehene Kernzone des neuen Parks, in der die Natur und deren Schutz Priorität geniessen, umfasst mit 150 Quadratkilometern fast die gleiche Fläche wie der Nationalpark im Engadin (170 km²). Zusammen mit der Umgebungszone beträgt der Perimeter des Parc Adula 1230 Quadratkilometer. Derzeit befinden sich der Park- und der Managementvertrag in Bern zur Vorprüfung. Voraussichtlich nächstes Jahr werden die 20 Gemeinden in Graubünden und im Tessin darüber abstimmen, ob sie bei diesem Projekt mitmachen möchten.

Ähnlich wie einst beim ersten Nationalpark sind auch heute Bedenken und Skepsis weit verbreitet. Im Unterschied zu damals kann aber heute ein Park massgeschneidert werden, der Schutz und Nutzen – vor allem für die einheimische Bevölkerung – aufeinander abstimmt. Das wird Kompromisse erfordern. Diese Chance gilt es aber zu packen. Um die Pioniere des Parc Adula zu loben, muss nicht 100 Jahre gewartet werden.

Norbert Waser ist stv. Chefredaktor

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