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«Nie mehr sollten wir nicht sagen»

Gian Gilli, der Delegations- leiter der Schweizer Athleten in Sotschi, hat sich wie kein Zweiter für Olympische Winterspiele in Graubünden starkgemacht. Weshalb das Volk Nein sagte, kann er sich auch heute noch nicht recht erklären.

Südostschweiz
01.03.14 - 01:00 Uhr

Mit Gian Gilli sprach Ueli Handschin

Herr Gilli, übermorgen Montag ist es genau ein Jahr her, seit sich die Bündnerinnen und Bündner an der Urne gegen eine Kandidatur als Austragungsort für die Olympischen Spiele 2022 ausgesprochen haben. Beschäftigt Sie diese Niederlage nach wie vor oft?

Gian Gilli: Die Kandidatur Graubündens war ein Projekt, in das ich nicht nur sehr viel Energie, sondern auch sehr viel Leidenschaft gesteckt habe. Und jetzt, als Delegationsleiter in Sotschi, ist mir die verpasste Chance natürlich immer wieder in den Sinn gekommen.

Das Nein vom 3. März 2013 lässt sich nicht einfach so unter den Teppich kehren.

In diesem Jahr, das seit der Abstimmung vergangen ist, bin ich auch ständig darauf angesprochen worden. Ich musste überall und fast täglich anhören, was wir gut oder schlecht gemacht oder besser hätten machen können. Zum Beispiel, dass wir Chur und Flims ins Sportkonzept hätten einbeziehen müssen. Die vielen Vorwürfe und Kommentare haben zwar den Verarbeitungsprozess vorangetrieben, das Thema aber auch ständig präsent bleiben lassen.

«Ich habe an ein Ja geglaubt»

Fällt es Ihnen mit einem Jahr Distanz leichter, sich das Nein des Volkes zu erklären?

Zwar kann ich das Nein akzeptieren. Aber verstehen kann ich es nicht wirklich. Denn nach der Abstimmung wären noch zwei Jahre geblieben, in denen man wieder hätte abspringen können, wenn sich herausgestellt hätte, dass das Konzept nicht umsetzbar ist. Ausserdem stand auch der Bund voll hinter den Plänen. Deshalb ist mir der Volksentscheid nach wie vor ein bisschen schleierhaft.

Haben die Befürworter unter den Politikern die Kandidatur zu wenig stark unterstützt?

Das ist eine hypothetische Frage. Es gab aber sicher weit wichtigere Gründe für die Skepsis im Volk.

Was hat denn vor allem zu den grossen Vorbehalten in der Bevölkerung beigetragen?

Das finanzielle Risiko beispielsweise oder die Korruptionsvorwürfe gegen das IOC, das hat die Leute ganz sicher verunsichert. Vermutlich hatten wir auch nicht in genügender Tiefe und Breite infor-mieren können. Es blieb zu wenig Zeit, die ganze Geschichte reifen zu lassen.

Haben Sie die Stimmung in Graubünden vor der Abstimmung zu optimistisch eingeschätzt?

Wir wussten zwar, dass es knapp werden würde. Aber daran geglaubt, dass es ein Ja geben wird, habe ich schon.

Nehmen wir an, das Volk hätte Ja gesagt. Wäre das im Kanton bereits heute zu spüren gewesen. Wäre Graubünden schon jetzt ein anderes Graubünden?

Es hätte schon eine gewisse Aufbruchstimmung gegeben. Und zwar nicht nur unter Sportlerinnen und Sportlern, sondern auch unter den vielen anderen Leuten, die man angestellt hätte, um die Kandidatur zu erstellen. Vielleicht wäre es aber auch ganz anders gelaufen und man wäre zum Schluss gekommen, wir müssen abbrechen, die Spiele sind nicht zu realisieren.

«Olympische Spiele sind Fernsehspiele»

In Ihrer Machbarkeitsstudie haben Sie damit aber nicht gerechnet.

Die umfangreiche Machbarkeitsstudie haben wir in acht Monaten entworfen, da wurde von Experten ein Haufen gute Arbeit gemacht. Diese Überlegungen hätte man weiterentwickeln, Anpassungen vornehmen und dann die Diskussion mit dem IOC aufnehmen müssen. Und man hätte zusätzlich weitere nachhaltige Projekte vorantreiben können, ein Nachwuchskonzept beispielsweise. Wir hatten fünf Millionen Franken für solche Projekte beiseitegelegt.

Das Bündnervolk konnte sich für die Olympischen Spiele einfach nicht begeistern, was doch nach den Spielen in Sotschi erst recht zu verstehen ist. Die Winterspiele 2014 waren, wie es ein Kritiker treffend formulierte: «Fernsehspiele aus der Retorte, die Russland zur Beweihräucherung seiner selbst auf Kosten der Bevölkerung und geprellter Arbeiter ausgerichtet hat.»

Dass die Stimmung nicht so wahnsinnig gut gewesen ist, ist richtig. Olympische Spiele sind Fernsehspiele, viele positive Feedbacks habe ich seit meiner Rückkehr von Sotschi erhalten. Es gab nicht viele Besucher aus dem Ausland, wozu die miese Berichterstattung in den Medien im Vorfeld der Spiele beigetragen hat. Die Spiele wurden in Russland ganz anders wahrgenommen als bei uns, eben positiv.

«Natürlich war alles etwas gar gross angelegt»

Aber vieles lief doch wirklich krumm.

Natürlich wurde gebaut auf Teufel komm raus, es wurde geklotzt und alles etwas gar gross angelegt. Das ist alles richtig. Es ist möglich, dass es Korruption gegeben hat, dass Menschenrechte verletzt worden sind. Die Sportler können aber an diesen Umständen nichts ändern.

Insgesamt ziehen Sie also eine positive Bilanz?

Wir haben extrem viel Positives erlebt. Beispielsweise 25 000 junge Studenten als Volunteers, die unglaublich gastfreundlich gewesen sind und alle perfekt Englisch sprachen. Wir hatten ein super Sportkonzept, eine Organisation, die einwandfrei funktioniert hat, wir haben eine russische Gastfreundschaft erlebt, die ihresgleichen sucht. Und wir waren in Skigebieten, die eine Zukunft haben werden, weil sie nur zwei Flugstunden von Moskau entfernt sind. Natürlich muss man in fünf Jahren schauen, ob all die Olympiabauten noch gebraucht werden. Sotschi besitzt aber ein griffiges Nachhaltigkeitskonzept.

Es gibt aber auch ganz grundsätzliche Einwände. Olympiade ist das hohe Fest des Spitzensports, und Spitzensport zu betreiben ist ein Tanz auf Messers Schneide. Nur wer es ganz nach vorne schafft, wird Karriere machen. Alle anderen bleiben auf der Strecke, sei es mangels Leistung oder wegen gesundheitlicher Folgen. Wird dem Spitzensport nicht viel zu hohe Bedeutung beigemessen?

Es gab in Sotschi tatsächlich mehr Verlierer als Gewinner, und aus der Sicht der Medien und des Marktes zählen an Olympia natürlich in erster Linie die Medaillen. Aber aus Sicht der Sportlerinnen und Sportler bedeuten auch die Diplome viel. Auch eine Tagesbestleistung kann sich förderlich auf die Karriere auswirken. Für die meisten der 85 Länder ist schon die Teilnahme ein Highlight. Wir schauen nicht nur auf die Medaillen, wir machen uns ein ganzheitliches Bild. Deshalb haben wir auch Neulinge aus der Schweiz nach Sotschi mitgenommen. Weil wir wissen, dass mit einer ersten Teilnahme ihre Chancen auf gute Plätze bei den nächsten Spielen deutlich grösser sein werden. Das ist eine Investition in Zukunft.

Wie lange wird es dauern, bis eine erneute Bündner Olympiakandidatur eine Chance haben könnte? Oder bleibt ein zweiter Anlauf in absehbarer Zeit chancenlos?

Es braucht nun sicher ein bisschen Zeit, bis man wieder etwas in dieser Richtung machen kann. Aber die Schweiz sollte Olympia nicht für alle Zeiten begraben. Gewisse Kreise fordern, man müsse Olympische Spiele ganz aus dem Alpenraum verbannen.

Das finden Sie falsch?

Das wäre völlig verfehlt. Ich bin immer noch überzeugt, die Spiele könnten, wenn man sie vernünftig konzipiert, unheimlich viele Impulse auslösen, und zwar bei abschätzbaren Risiken. Denn unsere Vorstellung von den Spielen in der Schweiz ist diametral etwas anderes, als in Sotschi über die Bühne gegangen ist.

«Ein Hellseher bin ich nicht»

Aber ob ein solches Bündner Konzept in 20 Jahren eine Chance hätte, steht in den Sternen.

Da haben Sie absolut recht. Das war vor einem Jahr aber nicht anders. Deshalb haben wir uns gesagt, wir probieren es und machen dem IOC einen Vorschlag, wie man es auch anders machen kann. Wir wollten diesen Weg gehen, weil die Schweiz über so viel Innovationskraft und Kreativität verfügt. Ausserdem signalisierten uns Oslo und München, wenn ihr antretet, werden wir verzichten. Unser Konzept war einfach bestechend. Doch das Volk hat eben immer recht.

«Die Schweiz sollte am Ball bleiben»

Werden Sie Olympische Spiele in Graubünden noch erleben?

Ein Hellseher bin ich nicht. Aber ich würde mich freuen, wenn irgendwann einmal wieder darüber diskutiert würde. Auch andere Regionen unseres Landes machen sich heute schon Überlegungen, ob sie irgendwann kandidieren wollen. Wir sollten uns diese Chance einfach nicht entgehen lassen und keinesfalls sagen, wir machen das nie mehr. Wir müssen jetzt etwas Zeit verstreichen lassen, und vielleicht steht beim nächsten Anlauf auch eine landesweite Olympiade zur Diskussion.

Die Idee einer Olympiade hierzulande ist also nicht gestorben?

Ich denke nicht. Die Schweiz sollte am Ball bleiben.

Gian Gilli, Missionschef der Schweizer Delegation an den Olympischen Spielen in Sotschi, ist morgen Sonntag, 2. März, ab 14 Uhr auch in der Sendung

«Sport-Nachmittag» auf Radio Grischa

zu hören.

… war seit 2009 bis im März letzten Jahres Chef Leistungssport von Swiss Olympics, danach hat er sich als Missionschef um Sotschi 2014 gekümmert. Seit Anfang 2012 besorgte er zudem die operative Leitung des Vereins Olympische Winterspiele Graubünden. Aufgewachsen ist Gilli in Zuoz. Er war Turn- und Sportlehrer am Gymnasium in Samedan, arbeitete als Langlauf-Nationaltrainer und als Sportdirektor der Ski-WM 2003 in St. Moritz. Er war auch Chef Leistungssport von Swiss-Ski und CEO der Eishockey-WM 2009 in Bern und Zürich. Gilli ist verheiratet und Vater von drei Töchtern. (so)

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