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Mit dem Drahtesel durch die goldenen Jahre

Leichtfüssig inszeniert und kongenial montiert erzählt «Hugo Koblet – Pédaleur de Charme» vom Aufstieg und Fall des gleichnamigen Radprofis. Der Film tritt den Beweis an, dass die Gattungsgrenze zwischen Dokumentation und Fiktion elegant überwunden werden kann.

Südostschweiz
16.09.10 - 02:00 Uhr

Von Flurin Fischer

Film lebt von herausgehobenen Momenten, hat der französische Philosoph Gilles Deleuze gesagt und damit die Kollision von Höhepunkten gemeint. Film lebt von Montage, die Raum und Zeit nach Belieben zusammenführt und auseinanderdriften lässt. Sein Status wird gemeinhin als dokumentarisch oder fiktional definiert. Regisseur und Autor Daniel von Aarburg hebt diese Distinktion auf: In der Verschränkung von Archivmaterial, selbstinszenierten Spielszenen und Gesprächen mit alt gewordenen Zeitzeugen entsteht eine dynamisch voranschreitende, flüssig erzählte Hommage an den Radfahrer Hugo Koblet. Gegenwärtiger Raum und vergangene Zeit durchdringen sich, die Höhepunkte dieser Geschichte kollidieren in Harmonie. Denn das Herz dieser unaufgeregten Sinfonie schlägt im Rhythmus einer sanft romantisierten Nachkriegsschweiz.

Gold und Frauen

Radfahrerlegende und Kontrahent Ferdy Kübler zeichnet von sich ein Selbstbild, das sich als das genaue Gegenteil von Koblet definiert. Der sei ein Frauenheld gewesen, und habe nicht durch Fleiss und Zielstrebigkeit, sondern mit aussergewöhnlichem Talent und Wettbewerbsglück seine Erfolge erreicht. Und die konnten sich, zumindest für einige Jahre, sehen lassen: 1950 gewann Koblet den Giro d'Italia, später feierte er Siege am Sechstagerennen in Zürich-Oerlikon. Nach einem wilden Leben als Profi machte er sich als Autohändler und Garagist selbstständig. Doch das Glück holte ihn nicht mehr ein, finanzielle Probleme und eine gescheiterte Ehe folgten auf die Karriere. 1964 starb Koblet im Alter von 39 Jahren bei einem Autounfall.In den Spielszenen verkörpert Manuel Löwensberg Hugo Koblet und er findet, ebenso wie das ganze Ensemble, genau den richtigen Ton um die Gesellschaft, die wir aus Klassikern wie «Bäckerei Zürrer» kennen, wieder zum Leben zu erwecken. Ausstattung, Farbgestaltung und Musik reagieren auf den Inhalt und synthetisieren die einzelnen Elemente des Films zu einem historischen Melodrama schweizerischen Ausmasses. Das sieht fast etwas zu schön aus, um wahr zu sein.

Das Territorium des Mythos

Die einzige wirkliche Schwäche des Films liegt in dem Versäumnis, die mitunter unmenschlichen Züge des sportlichen Wettbewerbs auch formal anzusprechen und damit zu illustrieren, warum der Held, den die euphorisierte Öffentlichkeit in Koblet projiziert hatte, letztlich an seinem Leben zerbrochen ist. Lieber erkundet von Aarburg das Territorium des Mythos und schwelgt in den verblassenden Erinnerungen. Was angesichts der Reichhaltigkeit dieser Geschichte verständlich genug ist. In der Zeichenhaftigkeit seiner Zeit verhaftet, rekurriert das Leben von Hugo Koblet auf eine Schweiz, in der noch mit Anstand geflucht wurde, Ärzte mit der Zigarette im Mundwinkel behandelten und Profisportler sich mit Würstchen und Bier zwischenverpflegen konnten und am Schluss dennoch den Sieg davontrugen. Diese naive Frische durchdringt alle Ebenen der Erzählung, die wegen der Stimmigkeit ihrer hybriden Form die vergangenen Zeiten wie ein Echo von der Leinwand ins vergnügte Publikum zurückwirft.Der Film startet heute Donnerstag in Chur und in Davos.

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