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«Konflikte werden im Sinne einer optimistischen Weltsicht gelöst»

Die Märchen in der Sammlung der Brüder Grimm sind zwar die berühmtesten – viele der Stoffe finden sich aber schon in Geschichten aus dem Mittelalter, sagt der deutsche Märchenforscher Hans-Jörg Uther.

Südostschweiz
19.12.12 - 01:00 Uhr

Mit Hans-Jörg Uther sprach Susanne Rochholz (sda)

Herr Uther, woran denkt ein Märchen-Experte als Erstes, wenn er den Namen Grimm hört?

Hans-Jörg Uther: Daran, dass von den über 200 Stücken der Brüder Grimm nur einige Dutzend in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Diese und andere Märchen repräsentieren seit Mitte des 19. Jahrhunderts das literarische Märchen schlechthin. Andere Märchensammlungen von Ludwig Bechstein, Wilhelm Hauff und Hans Christian Andersen oder solche wie «Tausendundeine Nacht» finden weniger Beachtung.

Trotz wiederkehrender Kritik, etwa an der Gewaltdarstellung in den Texten, ist die Grimm’sche Märchensammlung neben der Lutherbibel das im Ausland bekannteste deutsche Buch. Wie ist das zu erklären?

Märchen fangen sowohl in den fantasievollen Stücken als auch in den schwankhaften Alltagsgeschichten das ganze Leben ein. Sie sind im Kern Wunschdichtungen und vom Glück der Helden und Heldinnen her bestimmt. Die schon zu Lebzeiten der Brüder Grimm bestehende Kritik an Märchen ist zwar nie ganz verstummt, aber dennoch haben Märchen alle ideologischen Vereinnahmungen bis heute unbeschadet überstanden.

«Märchen fangen das ganze Leben ein»

Was macht die Märchen der Brüder Grimm so erfolgreich?

Die Stücke greifen Konflikte modellhaft auf. Die Konflikte werden im Sinn einer optimistischen Weltsicht, des «Prinzips Hoffnung», gelöst. Als kurze Erzählungen ohne Zwischentöne sind die Figuren leicht als Vertreter bestimmter Werte und Vorstellungen zu erkennen. Die Identifikation mit den positiv gezeichneten Figuren ist ungemein erleichtert, weil jeder die angebotene Schablone mit seinen Vorstellungen besetzen und seiner Fantasie freien Lauf lassen kann. Die damit verbundene Freiheit trägt zugleich zur zeitüberdauernden Wirkung der Märchen bei.

Wären Geschichten wie «Der Herr der Ringe», «Harry Potter» und die ganze Fantasy-Literatur ohne Grimms Märchen überhaupt denkbar?

Ja, denn abenteuerhaltige fantasiereiche Geschichten haben seit Homer die Menschen immer wieder interessiert. Viele Themen, Stoffe und Motive begegnen uns auch in den grossen Werken des Mittelalters sowie in den Literaturen der Welt. Märchen und besonders die Märchen der Brüder Grimm wären ohne diese Vorläufer nicht denkbar.

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