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Japan ist ohne Atomkraft und soll es laut Umfragen bleiben

Japan war lange drittgrösster Atomstromproduzent der Welt. Gestern wurde das letzte AKW für eine Routinekontrolle abgeschaltet. Mehr als die Hälfte der Japaner ist gegen eine Wiederinbetriebnahme.

Südostschweiz
06.05.12 - 02:00 Uhr

Von Susanne Steffen

Tokio. – Etwas mehr als ein Jahr nach dem Atom-GAU in Fukushima ist Japan atomstromfrei. Gestern Nachmittag hat die Hokkaido Electric Power Company damit begonnen, den letzten noch laufenden kommerziellen Reaktor im Norden des Landes herunterzufahren. Von einem Atomausstieg ist Japan zwar weit entfernt. Doch der ehemals drittgrösste Atomstromproduzent der Welt hadert mit seiner energiepolitischen Zukunft. Seit Fukushima wächst die Unsicherheit in der Bevölkerung, und die Regierung muss nun entscheiden, ob die Atomkraft in einem der erdbebenanfälligsten Länder der Welt noch eine Zukunft hat.

Alle 54 Atomreaktoren des Landes sind entweder für die gesetzlich vorgeschriebene Routinekontrolle abgeschaltet oder wegen Erdbebenschäden infolge des Megabebens vom März 2011 vom Netz. Damals hatten ein Erdbeben der Stärke 9,0 und ein gut 15 Meter hoher Tsunami Kernschmelzen in drei Reaktorblöcken des AKW Fukushima I ausgelöst. Bei dem schlimmsten Atomunfall seit 25 Jahren wurden grosse Mengen Radioaktivität freigesetzt. Noch immer können Zehntausende wegen der hohen Strahlung nicht in ihre Häuser zurückkehren. Nachdem die Regierung im April Teile der 20-Kilometer-Sperrzone rund um das AKW geöffnet hatte, musste sie einräumen, dass einige Gebiete wahrscheinlich jahrzehntelang unbewohnbar sein werden.

Widerstand trotz Stresstests

Ob und wie es mit der Atomkraft in Japan weitergeht ist auch am Tag 1 nach der Abschaltung des letzten Reaktors völlig offen. Angesichts der Fukushima-Havarie hatte die Regierung kurz nach dem Unfall Stresstests für alle AKW angekündigt, bei denen Unfallszenarien getestet werden, und die beiden ersten Reaktoren haben den Test nach Ansicht der Regierung kürzlich bestanden. Doch auch wenn nun rechtlich nichts mehr gegen das Hochfahren der Reaktoren spricht, scheint eine schnelle Wiederinbetriebnahme unwahrscheinlich, denn sie müsste von den lokalen Behörden genehmigt werden. Die Stadt Ohi und die Präfektur Fukui, die das AKW mit den zwei getesteten Reaktoren beheimaten, trauen den Beteuerungen des Industrieministers nicht so recht. Und auch die Bürgermeister der angrenzenden Grossstädte Osaka und Kyoto wehren sich lautstark gegen «unsichere» Reaktoren in ihrer Nachbarschaft.

Das Kabinett in Tokio warnt zwar vor den Folgen eines atomstromfreien Sommers für die Wirtschaft und verweist auf das wegen der Energieimporte erste Handelsbilanzdefizit seit über 30 Jahren im letzten Jahr. Doch das Misstrauen in die staatlichen Sicherheitsversprechen ist riesig. Laut einer Umfrage der Wirtschaftszeitung «Nikkei» ist etwas mehr als die Hälfte der Japaner gegen die Wiederinbetriebnahme der AKW. Drei Viertel der Bevölkerung sind laut verschiedenen Umfragen für den sofortigen oder schrittweisen Ausstieg.

Sommer der Entscheidung?

Eine schnelle Rückkehr zur Atomkraft würde die Demokratische Partei von Premier Yoshihiko Noda ein Jahr vor Ende der Legislaturperiode ins Umfragetief katapultieren – und den radikalen Reformern und Atomkraftgegnern um den Bürgermeister von Osaka, Toru Hashimoto, weiter Auftrieb geben. Gleichzeitig fürchtet die Regierung wohl auch, dass ein atomstromfreier Sommer das Schicksal der Atomkraft besiegelt. Kommt es auch ohne AKW nicht zu den gefürchteten Stromausfällen, wird das jahrzehntealte Killer-Argument, Japan könne nicht leben ohne Atomkraft, hinfällig.

Gestern feierten Japans Atomkraftgegner erst mal ihren Etappensieg. Tausende Menschen versammelten sich in Tokio, um den ersten atomstromfreien Tag seit 42 Jahren zu bejubeln und den Ausstieg zu fordern.

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