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«Ich bin keine Ämtli-Jägerin»

Silva Semadeni hat den Sprung nach Bern geschafft. Die frischgewählte SP-Nationalrätin freut sich auf ihr Amt, geht aber auch mit ein wenig Wehmut in die Ferne.

Südostschweiz
27.10.11 - 02:00 Uhr

Von Tatjana Jaun

Chur. – Silva Semadeni zu begegnen ist ein bisschen wie Ferien im Süden zu machen. «Buongiorno», sagt die gebürtige Puschlaverin mit einem ansteckenden Lachen und bittet an diesem Morgen in ein Besprechungszimmer der Bündner Kantonsschule. Mit ihrer herzlichen und temperamentvollen Art verbreitet sie südländisches Flair.

Ein neuer Job wartet

Seit 2000 unterrichtet Semadeni an der Kanti Geschichte und Staatskunde auf Italienisch im 50-Prozent-Pensum. Ein Amt, das die frischgewählte SP-Nationalrätin mit Herzblut ausführt. «Die Schule, meine Schüler und Schülerinnen bedeuten mir sehr viel», sagt Semadeni. Sie präsentiert eine Grusskarte. «Diese Karte haben mir meine Schüler geschenkt.» Diese gratulieren ihr darin zur Wahl. Darauf ist sie sichtlich stolz. Zugunsten der künftigen Parlamentsarbeit wird die 59-jährige Historikerin aber ihr Lehreramt ablegen müssen. «Ich liebe meinen Beruf. Der Abschied wird mir schwerfallen.» Man sage zwar, dass die nationalrätliche Arbeit in Bern einem 60-Prozent-Pensum gleichkomme und Zeit für Nebenämter vorhanden sei, «doch ich möchte Prioritäten setzen und meinen Volksauftrag gewissenhaft erfüllen», so Semadeni, die auch noch Pro Natura präsidiert. Sie wird nicht nur ihren Beruf aufgeben, sondern auch einen neuen Wohnsitz haben. Zumindest teilweise. «Ich werde mir in Bern eine kleine Wohnung suchen», erklärt sie. «Mein Hauptwohnsitz bleibt aber in Araschgen.» Dort wohnt sie seit 20 Jahren mit ihrem Mann Ruedi Bruderer.

Umwelt und Natur, der Ausstieg aus der Atomenergie, soziale Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau: Das sind Themen, die Semadeni politisch bewegen. Aufgewachsen bei ihren Grosseltern in Poschiavo, lernte sie schon früh, für Gerechtigkeit und den Naturschutz zu kämpfen. «Das Politisieren habe ich von meinem Grossvater gelernt», erzählt sie. Als Präsident der Alpgenossenschaft habe er sich für die bäuerlichen Anliegen eingesetzt. Semadeni lernte durch ihn, sich «durchzusetzen und eine dicke Haut zu zeigen». Eigenschaften, die Semadeni später in unzähligen Vereinen und Stiftungen unter Beweis stellen konnte: Präsidentin von Pro Natura Schweiz, Mitbegründerin von Pro Bernina-Palü, Stiftungsrätin der Greina-Stiftung und von Pro Helvetia, Vorstandsmitglied der Società storica Val Poschiavo, Kopräsidentin des Vereins für umweltgerechte Elektrizität, Mitglied der Strategiekommission Energieschweiz, Mitglied der Kommission Fonds Landschaft Schweiz und der eidgenössischen Nationalparkkommission und und und … Die Liste ihrer Mandate ist schwindelerregend lange – und längst nicht vollständig. Einige der Ämter hat Semadeni zwischenzeitlich abgelegt; sie alle zu bewältigen wäre ohnehin schlichtweg unmöglich.

Ihr bisheriges Engagement in diesen Organisationen hat sich aber politisch ausbezahlt: Ihr Bekanntheitsgrad hat Semadeni am letzten Wahlsonntag viele Stimmen eingebracht. Zwar erhielt sie von allen gewählten Nationalratskandidaten mit 13 153 am wenigsten Stimmen, trotzdem reichte es für einen Wahlsieg. Dabei hat ihr wohl nicht nur das grosse Netzwerk zum Sieg verholfen: Semadenis fröhliche, warmherzige und umgängliche Art, sagen Freunde und Bekannte, hätten der Lehrerin ebenfalls Sympathiepunkte eingebracht.

Neue Chancen packen

Dass Semadeni gut ankommt, zeigte sich bereits im Jahr 1995. Damals wurde die Churer Gemeinderätin schon einmal in den Nationalrat gewählt. Ein grosser Karriereschritt, wenn man bedenkt, dass sie weder im Grossrat noch in der Regierung sass. Allerdings wurde sie nach nur einer Legislatur wieder abgewählt. Ihr Parteikollege Andrea Hämmerle hingegen wurde wiedergewählt. Hätte Hämmerle, der seit 1991 im Nationalrat sitzt und jetzt zurückgetreten ist, schon damals Platz machen sollen? «Ich bin keine Ämtli-Jägerin. Das Volk entscheidet, ich habe das damals so akzeptiert. Ausserdem habe ich jetzt eine zweite Chance erhalten», sagt Semadeni und zeigt wieder ihr ansteckendes Lachen – sodass man wieder glaubt, im Süden zu sein.

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