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Historische Machtübergabe ein Jahr nach Gaddafis Fall

Libyen hat die erste Etappe auf dem Weg zur Demokratie abgeschlossen: In der Nacht auf gestern wurde die Macht feierlich dem frei gewählten Parlament übertragen. Doch die wahre Macht liegt noch immer bei den rivalisierenden Milizen.

Südostschweiz
10.08.12 - 02:00 Uhr

Von Michael Wrase

Tripolis. – Bei den Olympischen Spielen in London gab es für das demokratische Libyen (noch) nichts zu feiern. Bei der Machtübergabe an das frei gewählte Parlament durch den Nationalen Übergangsrat entschloss man sich in der Nacht auf gestern aber, in Tripolis eine grosse Siegesparty mit «olympischen Momenten», so die Zeitung «Libya Herald», zu veranstalten: Den Auftakt bildeten zwei Fackelträger, die das «Feuer der siegreichen Revolution» auf den Mauern der Zitadelle von Tripolis entzündeten. Es folgte ein gewaltiges Feuerwerk. Danach feierten Zehntausende Libyer bis in die frühen Morgenstunden. Ein opulentes Iftar, das traditionelle Mahl nach dem Fastenbrechen im Ramadan, und Getränke gab es gratis.

Bevor die Megaparty auf dem Märtyrerplatz von Tripolis stieg, hatten die 200 Abgeordneten der neuen Nationalversammlung im Kongresszentrum ihren Amtseid abgelegt. «Ich übergebe unsere konstitutionellen Rechte an die Nationalversammlung, die von nun an der legitime Repräsentant des libyschen Volkes ist», sagte der Chef des Übergangsrats, Mustafa Abdel Dschalil. Der nordafrikanische Staat erlebe einen «historischen Moment»; davon hätte vor einem Jahr, als der Gaddafi-Clan aus der Hauptstadt vertrieben wurde, wohl kaum ein Libyer zu träumen gewagt.

Wähler bremsen Islamisten aus

Muammar el Gaddafi war mit der Vertreibung aus Tripolis zwar geschlagen, aber nicht besiegt. Am 20. Oktober 2011 kam es dann bei Sirte zum Lynchmord an dem Diktator, und das Land drohte in einem blutigen Bürgerkrieg zu versinken. Trotz Machtkämpfen verfeindeter Milizen gelang es dem Übergangsrat, den Fahrplan zur Demokratie einzuhalten: Von 2,7 Millionen wahlberechtigten Libyern gingen am 7. Juli rund 1,6 Millionen an die Urnen. Zur Überraschung der meisten Beobachter wählten sie einen Nationalkongress, in dem – im Gegensatz zu Ägypten und Tunesien – nicht die Islamisten, sondern die eher liberal und westlich ausgerichtete Allianz der Nationalen Einheit unter Führung des pro-amerikanischen Mahmoud Dschibril den Ton angeben wird. Die von Katar finanzierten Muslimbrüder gestanden ihre Niederlage ein. Mit Hilfe unabhängiger Abgeordneten wollen sie jetzt aber dafür sorgen, dass Libyen «ein islamischer Staat mit islamischer Verfassung» wird.

Viel Arbeit für Nationalkongress

Libyen hat die erste Phase des demokratischen Aufbruchs eindrucksvoll bewältigt. Der Nationalkongress muss nun in den kommenden vier Wochen eine Regierung bestimmen, die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung vorbereiten und eine Abstimmung über die künftige Verfassung abhalten. Auf deren Grundlage soll dann in rund zwei Jahren ein neues Parlament gewählt werden.

Die zweite Phase des demokratischen Aufbruchs wird mit Sicherheit schwieriger für Libyen werden. Das Land hat jetzt zwar einen demokratisch legitimierten Nationalkongress. Die wahre Macht steckt aber noch immer in den Gewehrläufen unzähliger rivalisierenden Milizen, die in den nächsten Monaten und Jahren in eine nationale Armee sowie eine starke Polizei integriert werden müssten. Ohne Stabilität und Sicherheit im ganzen Land wird eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage nicht möglich sein. Nach den so erfolgreichen Wahlen zum Nationalkongress müssten die Libyer auch weiterhin an einem Strang ziehen, was aber leichter gesagt als getan ist.

Benghasi strebt nach Autonomie

Im Osten des riesigen Landes, in Benghasi, träumen die Menschen weiterhin von Autonomie, einige sogar von einem eigenen Staat. Eine Bevormundung durch das 1000 Kilometer entfernte Tripolis, wie unter Gaddafi, will man sich nicht bieten lassen. Da sich die meisten Ölquellen des Landes im Osten befinden, ist dieser in einer starken Verhandlungsposition. Zähe Gespräche sind zu erwarten. Differenzen könnten hier und dort auch mit der Waffe ausgefochten werden. Einig ist man sich aber, dass Libyen für immer ein freies und demokratisches Land bleiben soll. Diese Hoffnung wurde in der Nacht auf gestern im ganzen Land zum Ausdruck gebracht.

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