Gebratene Mistkäfer und Fussballspiele mit 200 Spielern
Das Mittelalter war nicht nur finster. Neben Brutalität und Dreck gab es feinste Umgangsformen, duftende Bäder – und in England sogar Fussballspiele. Das zeigt Ian Mortimer in seinem Buch «Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende».
Das Mittelalter war nicht nur finster. Neben Brutalität und Dreck gab es feinste Umgangsformen, duftende Bäder – und in England sogar Fussballspiele. Das zeigt Ian Mortimer in seinem Buch «Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende».
Von Sibylle Peine (sda)
Fussball ist sehr viel älter, als wir glauben. Das Spiel war nämlich schon im Mittelalter bekannt, jedenfalls in England. Allerdings in einer Form, bei der wir uns die Augen reiben würden. Mit der Zahl der Spieler nahm man es nämlich nicht so genau. Es konnten schon einmal 200 sein! Nahmen solche Massen am Spiel teil, waren die Tore oft mehrere Kilometer voneinander entfernt. Die Spielfeldgrösse richtete sich nach der Zahl der Teilnehmer. Der Ball konnte klein wie ein Cricketball oder auch sehr gross sein.
Die Regeln des Spiels, das man damals «campball» nannte, wurden jedes Mal neu festgelegt. Oft kam es zu chaotischen Szenen. Ein mittelalterliches Fussballspiel endete nicht selten mit Verletzten und Toten.
Zwei Mal verbot König Edward III. das Spiel im ganzen Königreich. Seine Untertanen sollten sich lieber im Bogenschiessen üben, fand er. Das war schliesslich viel nützlicher für den Krieg. Es sind solche Details, die Ian Mortimers Buch «Im Mittelalter» lesenswert machen.
Anständiger, als man meint
Mortimer hat zwar einen Reiseführer durch das England des 14. Jahrhunderts geschrieben, doch vieles kann man auch auf kontinentaleuropäische Verhältnisse übertragen. Sein Buch ist plastisch, sinnenfroh, oft schrecklich, aber auch überraschend anders. Nicht selten korrigiert es vorgefasste Meinungen.
Viele Bilder vom Mittelalter stimmen mit der historischen Realität nicht überein. So glauben wir gerne, der damalige Mensch sei ein Dorftrampel ohne Kinderstube gewesen. In Filmen sieht man wüste Gelage, bei denen die Gäste gierig an Hühnerkeulen nagen und die Knochen dann in hohem Bogen durch den Saal werfen. «Vergessen Sie solche Mythen», sagt Mortimer: «Es gibt einfach keinen Haushalt, in dem ein solches Benehmen als schicklich gelten würde. Vielmehr ist eine strenge Etikette zu beachten.» Händewaschen vor jeder Mahlzeit war selbstverständlich.
Auch in puncto Reinlichkeit war es im Mittelalter nicht so schlimm, wie man es erwarten würde – in jedem Fall weitaus besser als etwa im 17. und im 18. Jahrhundert. Sicher, unter den Hörigen galt ein strenger Körpergeruch als ein Zeichen von Virilität, doch gleichzeitig herrschte eine ausgeprägte Badekultur. Es gab öffentliche Badehäuser und Dampfbäder, sogenannte «Stews», und König Edward I. hatte fliessendes Wasser in seinem Badezimmer, das aus vergoldeten Bronzehähnen floss. Später, in Versailles hätte man so etwas vergeblich gesucht.
Die Schattenseiten gab es auch
Unangenehm am Mittelalter sind in den Augen Mortimers dagegen die allgemeine Brutalität und die unterentwickelte Medizin. Es galt als normal, Kinder, Frauen und Hunde zu prügeln, die Strafen für Diebe waren drakonisch, und Freizeitvergnügen wie Stierhetzen und Hahnenkämpfe ausgesprochen blutig. Auch der Humor war derb. Mit Schadenfreude hielt man nicht zurück.
Vielleicht brauchten die Menschen einfach jede Art von Freude, um die vielen Plagen zu überstehen. Denn Pest, Lepra, Tuberkulose und ande-ren Krankheiten stand die Medizin machtlos gegenüber, war sie doch eine «bizarre Mischung aus Geheimritualen, religiösen Kulten, Hausmitteln und einer Freakshow».
So empfahl man gegen Blasensteine in Öl gebratene Mistkäfer und Grillen, bei einer kranken Milz zusätzlich «die Köpfe von sieben fetten Fledermäusen». Manchmal war das Mittelalter dann eben offenbar doch so finster wie in unseren Vorstellungen.
Ian Mortimer: «Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende». Verlag Piper. 368 Seiten. 34.90 Franken
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