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«Ganz einfach: Ich könnte die Opferrolle nicht ertragen»

In einer schlaflosen Nacht hatte Guido Fluri die Idee der Wiedergutmachungsinitative. Sie soll Menschen, die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wurden, finanziell entschädigen. Fluri, selber ein Heimkind, will den Opfern ein Stück ihrer Würde zurückgeben.

Südostschweiz
30.07.14 - 02:00 Uhr

denise erni

Bündner Tagblatt: Herr Fluri, was ist Ihre schönste Kindheitserinnerung?

guido fluri: Ich war etwa sechs Jahre alt, es war die Zeit, als ich meine Freiheit erstmals richtig spürte. Mein erstes Velo, um mich herum der Wind eines lauwarmen Sommerabends. Ein sehr schönes Gefühl, an das ich mich noch sehr gut erinnere.

Ihre Mutter leidet seit ihrer Kindheit unter Schizophrenie. Sie wuchsen deshalb in Heimen und bei Ihren Grosseltern auf. Was war für Sie das Schlimmste?

Das Wort «schlimm» ist immer relativ. Viele Menschen tragen Lasten ihrer Geschichte. Für mich war es wohl das Gefühl der Einsamkeit, die mich geprägt hat.

Wie oft sehen Sie Ihre Mutter heute?

Mit ihrer Krankheit, der chronischen Schizophrenie, braucht sie eine Tagesstruktur. Daher besucht sie mich, wenn immer möglich, täglich im Büro.

Gibt es einen Moment mit Ihrer Mutter, an den Sie sich besonders erinnern?

Es gibt viele Momente, die mich an meine Mutter erinnern. Einer der gravierendsten war wohl die Einweisung von ihr in eine Klinik.

Gab es Zeiten, an denen Sie Ihrer Mutter Vorwürfe gemacht haben, wütend auf Sie waren, weil sie Sie einfach so Ihrem Schicksal überliess, Ihnen keine «normale» Mutter sein konnte?

Solche negativen Gefühle kenne ich, ja. Man muss aber lernen zu verstehen, warum diese Empfindungen so einen starken Einfluss haben. Es nützt nichts, andere für sein eigenes Leben verantwortlich zu machen. Nur in der Erkenntnis und im Loslassen macht man Fortschritte und entwickelt sich weiter.

Kinder brauchen Nestwärme und Bezugspersonen. Wer war Ihre Vertrauensperson?

Das war meine Grossmutter. Obwohl sie es auch nicht immer leicht hatte, gab sie mir in Phasen meiner Kindheit auch Nestwärme.

Ihren leiblichen Vater kennen Sie nicht. Haben Sie einmal versucht, ihn ausfindig zu machen?

Mit 20 Jahren, als ich meine Volljährigkeit erlangte und meine gesetzliche Vormundschaft auslief, wurde mir der Name präsentiert. Ich schrieb ihm einen Brief. Er blieb unbeantwortet. Ich hatte aber nie einen Groll auf meinen leiblichen Vater. Es ist so, wie es ist. Viele Kinder hatten solche Geschichten.

Wann in Ihrem Leben litten Sie am meisten darunter, dass Sie keine «normalen» Eltern wie Ihre Schulgspänli hatten?

Durch das Ausbleiben einer Identifikationsfigur lernt man entweder, sich früh selbstständig zu bewegen oder man bleibt ein Leben lang ein Suchender. Man muss sich damit abfinden oder man driftet ab. Ich wählte den ersten Weg und erwarb bereits mit 20 Jahren Grundstücke.

Man sagt oft, das hast Du von deiner Mutter, das von deinem Vater. Diese Vergleiche fehlen Ihnen teilweise. Ihr Blick zurück geht ins Leere … Hadern Sie damit?

Ich bin im chinesischen Sternzeichen ein Feuerpferd. Ich hadere nicht mit meinem Leben, sondern nehme es in meine Hände und versuche durch meine eigenen Schicksale das der anderen erträglicher zu machen. Meine Ziele habe ich immer konsequent verfolgt.

Woher stammt Ihr Engagement für die Wiedergutmachungsinitiative für die Heim- und Verdingkinder?

Gewalt an Kindern zu verhindern, ist ein Teil unseres Stiftungszecks. Heute gibt es in der Schweiz jedes Jahr 8000 neue Pflegekinder. Kinder, die aus der ursprünglichen Familie rausgerissen werden. Bevor wir uns aber den heutigen Pflegekindern widmen, möchten wir einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leisten.

Sie sagen, Sie seien ein «Betroffener, aber kein Opfer». Wo liegt der Unterschied?

Ganz einfach, ich könnte die Opferrolle bei mir nicht ertragen.

Sie haben das Kinderheim Mümliswil (SO) der Gemeinde abgekauft und dort eine Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder errichtet. Wieso das?

Wir wollen dort die Geschichte der Heim- und Verdingkinder der Öffentlichkeit mit einer Wissensplattform zugänglich machen. Im ersten Jahr hatten wir über 120 Führungen, vornehmlich Schulklassen und Studenten. Nach dem Besuch haben Lehrpersonen die trübe Geschichte fest ins Lernprogramm aufgenommen. Dies war für mich ein wichtiges zentrales Ziel, die jüngere Generation damit vertraut zu machen. Zudem war auch ich für eine kurze Zeit in diesem Heim.

Wie hoch ist der Druck, der auf Ihnen mit der Wiedergutmachungsinitiative lastet?

Der Druck ist hoch. Da der runde Tisch nur Empfehlungen abgibt, ermöglicht die Initiative durch ihre Kampagnen nun erstmalig eine gesellschaftliche Aufarbeitung. Viele Betroffene reagieren und kommen aus ihren «Schützengräben», wo sie teilweise jahrzehntelang waren, heraus. Sie haben nun die Hoffnung, es kommt alles gut. Ich habe es angefangen, jetzt muss ich es auch zu Ende führen.

Werden Sie die Initiative noch in diesem Jahr einreichen können?

Ich gehe davon aus. Wir möchten rasch die Unterschriften zusammenhaben. Dies sendet ein starkes Zeichen an die Politik. Viele Menschen sind alt und haben nicht mehr viel Zeit. Die Bevölkerung kann nun ein starkes Zeichen der Solidarität für diese schwer betroffenen Menschen geben.

Geld kann aber die seelischen Verletzungen der Betroffenen auch nicht lindern …

Nein! Die seelischen Verletzungen sind durch die physischen und psychischen Missbräuche so abgrundtief, dass sie nie mehr geheilt werden können. Mit Geld ist dies nicht wiedergutzumachen. Aber mit einem Zustupf von einigen tausend Franken beispielsweise für eine zwangssterilisierte Frau, gibt es zumindest eine Anerkennung für das grosse Leid dieser Menschen. Viele leben mit unter 2000 Franken pro Monat und schämen sich ihr ganzes Leben lang für ihre Geschichte. Viele ältere Menschen haben auch nicht den Mut und die Kraft, ein Begehren zu stellen. Hier kann nun ein demokratisches Land wie die Schweiz ein starkes Zeichen der Verbundenheit geben. Denn es darf nicht sein, dass die Schweiz mit ihrer jahrelangen humanitären Tradition da nicht hilft.

In Ihrer Stiftung engagieren Sie sich auch für Betroffene von Hirntumoren. Sie selber erkrankten 2005 an einem gutartigen Hirntumor. Sehen Sie immer das Gute in Schicksalsschlägen?

Schicksale gehören zum Leben. Wenn man sie meistert, wird man stärker. Nach meiner Hirntumordiagnose habe ich ein länderübergreifendes Board entwickelt, das heute jedes Jahr Tausenden von Betroffenen in ihrer Situation eine Unterstützung ermöglicht. Wir finanzieren Operationen von Kindern aus Drittweltländern, die sonst sterben würden. Da wird einem das eigene Schicksal als Sinnbild vor Augen geführt.

Auch engagiert sich Ihre Stiftung für Schizophreniekranke. Ein Vermächtnis an Ihre Mutter?

Ja, auch hier hat der Stiftungszweck einen unmittelbaren Bezug zu meiner Biografie. Ich habe schon als Kind miterlebt, was diese Krankheit für den Betroffenen aber auch für das unmittelbare Umfeld bedeutet. Wenn man mit seinem Geist nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Alleine in der Schweiz leben gegen 100 000 Menschen mit der Krankheit Schizophrenie. Viele der Betroffenen haben keinen Halt in unserer Gesellschaft. Und viele im Umfeld fühlen sich mit dieser Krankheit verständlicherweise auch überfordert.

Sie haben selber drei Kinder. Was sind Sie für ein Vater?

Da müssten sie meine Kinder fragen. Ich habe hier hohe Ansprüche an mich. Der Mann ist jedoch zwischen der rationellen und emotionalen Welt stetigen Wechselwirkungen ausgesetzt. Es ist nicht immer einfach, beides erfolgreich zu meistern.

Mit Ihrem Vermögen könnten Sie sich zurücklehnen. Sind Sie ein Getriebener, ein Ruheloser?

Ich kämpfe für Gerechtigkeit! Auch wenn mein Vermögen grenzenlos wäre, würde ich mich nicht zur Ruhe setzen. Es ist diese innere Überzeugung, was viel mit dem Sinn des Lebens zu tun hat.

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