×

Engadiner Wetterphänomen auf der Piazza Grande

Am gestrigen zweitletzten Tag des Filmfestivals Locarno hat das Piazza-Programm einen cineastischen Höhepunkt erreicht: In «Sils Maria» erzählt der Franzose Olivier Assayas eine intelligente Geschichte über Vergänglichkeit.

Südostschweiz
16.08.14 - 02:00 Uhr

Von Annina Hasler (sda)

Locarno. – Im frühen Herbst lässt sich im Engadin ein seltenes Wetterphänomen beobachten. Die «Malojaschlange», eine Nebelschwade, windet sich zwischen den Bergen durch das Tal und kündigt schlechtes Wetter an. Ebenso still und lange unbemerkt schleichen sich auch die Vorboten des Alters und der Veränderung ins Leben der renommierten Schauspielerin Maria Enders (Juliette Binoche).

Als blutjunge Frau spielte Enders im Theaterstück «The Maloja Snake» die Rolle der Sigrid, die eine Affäre mit ihrer Vorgesetzten, der älteren, erfolgreichen Helena beginnt und diese schliesslich in den Suizid treibt. Enders’ Karriere fusst auf ihrem Debüt als verführerische Sigrid, die Figur der Helena hingegen ist für die Schauspielerin gleichbedeutend mit dem Altern, der Unfreiheit, der Abhängigkeit – mit allem also, worin sie sich nicht erkennen kann.

Jahrzehnte nach ihrem Erfolg als Sigrid bittet ein bekannter Regisseur Enders, noch einmal in diesem Stück mitzuspielen. Diesmal jedoch soll die Schauspielerin die Rolle der Helena übernehmen. Als Sigrid ist die junge, gefeierte Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) vorgesehen, die bisher vor allem als Mutantin in einem Blockbuster-Film und mit ihrem Privatleben für Aufsehen sorgte.

Rollenwechsel nach mehr als 20 Jahren

Trotz grosser Bedenken beschliesst Enders, sich auf das Projekt einzulassen. Mit ihrer Assistentin Valentine (Kristen Stewart) zieht sich die Mittvierzigerin nach Sils Maria zurück, an den Entstehungsort des Theaterstücks. Dort beginnt sie mithilfe von Valentine, das Stück zu proben und dabei zum zweiten Mal nach mehr als 20 Jahren in seine Figuren und deren Innenleben einzutauchen.

Doppelbödiges Spiel

Das neuste Werk von Olivier Assayas wurde am diesjährigen Filmfestival in Cannes erstmals aufgeführt, ging im Kampf um die Goldene Palme allerdings leer aus. Dabei treibt der französische Filmemacher ein intelligentes, doppelbödiges Spiel.

Der Film stellt die Figuren im Theaterstück in Relation zu den Protagonistinnen Maria, Valentine und Jo-Ann. Auf subtile Weise wird suggeriert, dass Valentine und Maria – wie Sigrid und Helena Untergebene und Vorgesetzte – nicht nur über die Figuren im Theater diskutieren, sondern auch über sich selber sprechen. Denn Enders ist längst viel mehr zu Helena geworden, als ihr lieb ist. Schon die ersten Szenen offenbaren, wie sehr ihr Leben von der Anwesenheit ihrer Assistentin Valentine geprägt ist.

Binoche wie Stewart sind Idealbesetzungen: Ihr Zusammenspiel überzeugt durchweg. Stewart, die bisher vorwiegend in Filmen wie «The Twilight Saga» zu sehen war und die damit eher an die Figur der Jo-Ann Ellis erinnert, steht keineswegs im Schatten der grossen Binoche, die in Locarno mit einem Excellence Award ausgezeichnet wurde.

Binoche auf den Leib geschrieben

Mit der Realisation von «Sils Maria» ging für die Binoche und Assayas ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung. Er habe seinen Film rund um Binoche konstruiert, sie beim Schreiben des Drehbuchs ständig vor Augen gehabt, sagte Assayas gestern in Locarno. «Juliette und ich kennen uns, seit wir jung sind, haben aber bisher nie einen Film gedreht, in dem sie eine Hauptrolle spielte. Schliesslich hat sie mich angerufen und gesagt: ‘Lass uns einen gemeinsamen Film machen’.»

Der Regisseur sprach auch über die Dreharbeiten mit der 50-jährigen Binoche und der 26 Jahre jüngeren Stewart. Die zwei Frauen hätten eine komplett unterschiedliche Arbeitsweise, so Assayas: Während Stewart ein sehr fokussierter und kontrollierter Mensch sei, arbeite Binoche viel spontaner und intuitiver und setze sich intensiv mit dem Innenleben der Figuren auseinander.

Zum Teil im Engadin gedreht

Assayas hat einen Teil der französisch-schweizerisch-deutschen Produktion im Engadin gedreht. Der Figur Maria stellte der Filmer auch das Wetterphänomen über Maloja gegenüber. Gerade weil die Wolke im Film ein Symbol für die Beständigkeit ist, fühlt sich Maria, die fürchtet, ihre Jugend und dadurch sich selber zu verlieren, vom Phänomen magisch angezogen.

«Sils Maria» kommt am 18. Dezember in die Deutschschweizer Kinos.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu MEHR