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«Endlich Gerechtigkeit» für die Tausenden Asbest-Toten

Der Schweizer Unternehmer Stephan Schmidheiny und der belgische Baron Jean-Louis de Cartier sind in Turin zu je 16 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sie sollen in Asbestfabriken den Tod Tausender Arbeiter verursacht haben.

Südostschweiz
14.02.12 - 01:00 Uhr

Von Dominik Straub

Turin. – Die zu Hunderten angereisten Angehörigen von Asbestopfern jubelten, klatschten und weinten vor Freude, als Richter Giuseppe Casalbore gestern im Turiner Justizpalast das Urteil verlas: 16 Jahre Gefängnis wegen absichtlicher Vernachlässigung der Sicherheit und absichtlicher Verursachung eines Desasters, lautete das Verdikt gegen die ehemaligen Mehrheitsaktionäre der italienischen Eternit-Fabriken. Gleichzeitig verurteilte der Richter die beiden Angeklagten zu provisorischen Entschädigungszahlungen. Unter anderem sprach er den über 6000 Angehörigen, welche sich als Zivilparteien am Prozess beteiligten, je einen Betrag von 30 000 bis 50 000 Euro zu.

Von 20 Jahren bis Freispruch

Mit dem Urteil werden Schmidheiny und de Cartier für den Tod oder die Erkrankung von rund 3000 Personen verantwortlich gemacht, die in den italienischen Eternit-Fabriken gearbeitet hatten. «Es handelt sich um eine exemplarische Strafe: Mit diesem Urteil verschafft das Gericht den Asbest-Toten und ihren Angehörigen endlich Gerechtigkeit», erklärte der Sekretär der kommunistischen Gewerkschaft CGIL, Vincenzo Scudiere, nach der Urteilseröffnung. Staatsanwalt Raffaele Guariniello hatte für die Angeschuldigten wegen vorsätzlicher Tötung sogar eine Strafe von 20 Jahren Zuchthaus verlangt; die Verteidigung wiederum hatte einen Freispruch gefordert.

Der italienische Gesundheitsminister Renato Balduzzi sprach gestern von einem «historischen Urteil» – und hatte damit nicht unrecht: Das Strafverfahren gegen Schmidheiny und den belgischen Baron, das vor rund zwei Jahren begonnen hatte, ist einer der grössten und spektakulärsten Prozesse, die Italien in den letzten Jahren gesehen hat. Es geht um den GAU der Industriegeschichte: Die – in der Schweiz und der EU seit Anfang der Neunzigerjahre offiziell verbotene – Asbestverarbeitung hat allein in Italien schon über 2000 Tote gefordert; weltweit fallen der gefährlichen Faser jährlich etwa 100 000 Menschen zum Opfer. Aufsehenerregend ist das Turiner Verfahren auch deshalb, weil es sich um den ersten Prozess handelt, in welchem nicht lokale Manager vor Gericht stehen, sondern ehemalige Vertreter der Eternit-Konzernspitze.

Mit dem gestrigen Urteil ist der Prozess freilich nicht zu Ende: Die Verteidiger von Schmidheiny bezeichneten das Verdikt als «völlig unverständlich» und kündigten Berufung an. Die Verteidigung macht geltend, dass Schmidheiny bei der italienischen Eternit nie eine operative Führungsverantwortung gehabt oder im Verwaltungsrat gesessen habe. Ausserdem könne von einer vorsätzlichen Vernachlässigung der Sicherheit keine Rede sein, im Gegenteil: In der Zeit, in welcher die Schweizerische Eternit-Gruppe (SEG) Mehrheitsaktionärin gewesen sei, habe die Muttergesellschaft in Italien über 60 Millionen Franken in die Arbeitssicherheit investiert. Die Massnahmen hätten dem damaligen medizinischen und wissenschaftlichen Stand und den höchstmöglichen industriellen Standards entsprochen. Weiter kritisieren die Verteidiger «schwerwiegende Verfahrensmängel». Unter anderem sei ihnen die Einsicht in zentrale Akten verweigert worden.

«Absurd und unredlich»

Unter der Führung Schmidheinys war in allen Asbestfabriken der SEG und ihren Tochtergesellschaften auf die nasse Verarbeitung umgestellt worden, was die gefährliche Staubentwicklung und damit das Gesundheitsrisiko massiv reduzierte.1986 gingen die italienischen Eternit-Werke in Konkurs. «Asbest war und ist weltweit eine Tragödie und vor allem ein soziales Problem», betonte gestern Peter Schürmann, Sprecher von Stephan Schmidheiny. Einzelne vermögende Persönlichkeiten – und mit Schmidheiny einen «Ausstiegs-Pionier» – nach über 25 Jahren dafür verantwortlich machen zu wollen, sei «absurd und unredlich».

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