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Elektronisches Tagebuch einer Freundschaft

Briefwechsel war gestern, heute verständigt man sich digital. Auch in der Literatur, wie Matthias Zschokkes neues Buch «Lieber Niels» bezeugt. Literatur und neue Medien reiben sich gehörig aneinander – und erzeugen Spannung.

Südostschweiz
08.04.11 - 02:00 Uhr

Von Beat Mazenauer

Seit 1982 kommunizieren Matthias Zschokke und der Literaturwissenschaftler Niels Höpfner intensiv miteinander, die letzten acht Jahre auch über E-Mail. Auf diesem Weg haben sie Tausende von Nachrichten ausgetauscht, in denen sie sich Lektüren empfahlen oder über Ansichten stritten. Daraus ist ein dickes Buch geworden: ein Tagebuch der Freundschaft. In «Lieber Niels» kommt nur Zschokke zu Wort, sein Dialogpartner hält sich zurück – und ist gleichwohl stets präsent. Im Unterschied zur Selbstbefragung im Tagebuch stösst der Autor hier auf Resonanz.

Seine Klagen über die Nöte des Alltags gleiten daher nie ins Lamento ab, sondern provozieren klärenden Widerspruch und Aufmunterung. Der Freund wird zum Spiegel, in dem der Schreibende sich klarer erkennt. Zschokke mag Opern, sieht sich gerne Filme an, sträubt sich gegen konfektionierte Literatur. Darüber tauscht er sich mit Niels aus. Seine Kritik äussert er mit erfrischender Unverblümtheit, auch wenn dabei namentlich genannte Kollegen aus dem Betrieb kräftig ihr Fett abbekommen. Er bekundet sichtlich Mühe mit dem windigen Literaturmarkt, dessen Anforderungen er nicht erfüllen kann. Letzteres impliziert eine dauerhaft angespannte, den Schlaf raubende Finanzlage.

Buch der Kränkung

So dreht sich hier vieles auch ums Geld. «Lieber Niels» ist ein Buch der Kränkung im doppelten Sinn. Gekränkt ob des Erfolgs von minderen Talenten im Literaturbetrieb nimmt Zschokke seine Kollegen mit spitzen, pointierten Urteilen aufs Korn. «Raoul Schrott: ein Streber» tituliert er den erfolgreichen Konkurrenten. Das ist gefährlich, und womöglich irreführend. Zschokke spielt lustvoll mit dem Feuer der Rache. Wer hierbei aber nur den literarischen Klagemann sieht, überliest die Ironie und die Einsicht, womit sich Zschokke vor Selbstgefälligkeit rettet.

Konkurrenz ist «schwer zu ertragen für einen wie mich, der so stark unter Neid und Eifersucht leidet», schreibt er. So hält er subtil eine Balance zwischen Angriff und Einkehr. In der kurzen Vorrede nennt Niels Höpfner diesen Band «exzentrisch, egoman und extravagant». Genau das ist er, zugleich erzungerecht, elegant und einfach komisch.

Ein Diener der Kunst

Sein Scheitern als Publikumsmagnet trägt Zschokke mit Witz: «Meine Agenda ist ja in der Regel so gähnend leer, dass ich mir für dieses Jahr gar keine neue angeschafft habe.» Der Dichter, der sich nutzlos, luxuriös seiner Kunst widmet, ist ein Eremit, der gesellschaftlichen Trubel meidet. Warum also nicht «unbedingt mehr verwildern in allem, was ich tue!»

In diesem E-Mail-Tagebuch über die Jahre 2002 bis 2009 werden die Leser Zeugen einer dichterischen Raison d’être, die den erfolglosen Eigensinn vor sich selbst verantworten muss. Die Lektüre nimmt daran innigen Anteil. Man braucht sie sich nicht in einem Schwung abzuringen, das opulente Buch voller Geschichten verträgt durchaus längere Fristen.

Eine Einführung ins Werk

Zeitgleich mit dem weitschweifigen Dokument einer schönen Freundschaft hat Niels Höpfner sein im Internet verfügbares Zschokke-Archiv in Buchform aufgelegt. Es stellt gerafft einen Dichter vor, der mit «pointillistisch epischen Tableaux» den Roman neu erfunden habe.

Matthias Zschokke: «Lieber Niels». Wallstein-Verlag, 764 Seiten, 43.90 Franken.

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