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Die Schweiz ist (k)ein Nationalpark

100 Jahre ist es her, seit ein paar Pioniere um den charismatischen Engadiner Naturwissenschaftler und -schützer Steivan Brunies den Schweizerischen Nationalpark gegründet haben.

Südostschweiz
31.07.14 - 02:00 Uhr

Von David Sieber

Ihr Ziel: Die Natur ungestört walten zu lassen; ein Stück Ursprünglichkeit wiederherzustellen. Natürlich wissenschaftlich überwacht und streng reglementiert für Besucher freigegeben. Der Natur musste in dem zuvor von Menschen versehrten Gebiet am Ofenpass erst nachgeholfen werden, zum Beispiel durch die Ansiedlung von Steinböcken. Seither aber führt die Wildnis Regie. Ein Stück heile Alpenwelt ist entstanden. Und ein Lehrstück darüber, wie und weshalb die Schweiz funktioniert.

Die Entstehungsgeschichte liest sich erstaunlich heutig. Auf eine Idee folgt der eher undifferenzierte Widerstand. Liegt ein Projekt vor, prallen die verschiedenen Interessen aufeinander. Wird es spruchreif, beginnt der Abwehr-mechanismus zu spielen – gegen alles, was aus Bundesbern (oder einer anderen Zentralgewalt) kommt. Es wird um Konzessionen und Kompensationen gerungen. Schliesslich, nach einem langen, zähen Konflikt, findet man sich. Oder auch nicht. Im Falle des Nationalparks war der Erfolg durchschlagend. Die einstigen Querelen sind höchstens noch Stoff für ein Volkstheater.

Dass die grosse, vom Fernsehen übertragene 1.-August-Feier in Zernez stattfindet, hat also durchaus einen Symbolwert, der über den runden Geburtstag hinausgeht. Zumal sich der Nationalpark zwar nicht gerade zu einem neuen Rütli, aber doch zu einem Sehnsuchtsort für reines Schweizertum entwickelt hat. Eine sich selbst genügende Schweiz als Habitat des Ursprünglichen, unberührt von äusseren Einflüssen, befreit von Zuwanderung. Eine Schweiz, wo Kindergärtler vom Diktat des Hochdeutschen befreit sind, wo Minarette nicht das Landschaftsbild verschandeln, wo das Recht des Stärkeren uneingeschränkt gilt. Ganz natürlich.

Doch die Schweiz ist kein Nationalpark. Sie ist ein durch und durch künstliches, von Menschenhand geschaffenes Gebilde, dessen Daseinszweck aber schon mit der Natur vergleichbar ist: die Schaffung einer Struktur, die das Überleben einer Spezies sichern hilft. Auch Ameisenvölker ziehen Grenzen und vertreiben Eindringlinge gnadenlos. Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied: Menschen sind keine Tiere. Zumindest dem Geist sind keine Grenzen gesetzt. Diesen freiwillig zu limitieren, sich stattdessen in eine selbst geschaffene und idealisierte Seifenblase zurückzuziehen, ist nicht nur eine persönliche Einengung, sondern die eigentliche Gefahr, die der Schweiz droht.

dsieber@suedostschweiz.ch

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