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Die Schweiz als Dramaturgin eines «Familienrapports»

Derzeit laufen im Theater Chur die Proben für «Mamma Helvetia», Georg Schareggs vielstimmigen «Familienrapport» zur Befindlichkeit der Schweiz. Darin geht es um Masseneinwanderung und Folklore, Identität und Globalisierung.

Südostschweiz
22.12.14 - 01:00 Uhr

Von Christian Ruch

Chur. – «Sie wissen nicht, was Glück ist. Aber sie wissen, was Glück war.» So lautet eines der zahllosen Zitate, die Georg Scharegg zu einem einzigen Text komponiert hat, um in seinem neuen Schauspiel «Mamma Helvetia» die Befindlichkeit der Schweiz auszuloten. Ob das Alpenidyll, das durch ein Unesco-Label geadelt wird, oder die hässliche Gesichtslosigkeit der wuchernden Agglomerationen im Mittelland – alles, was dieses Land heute ausmacht, hat Platz, um in einen vielstimmigen Chor aus Original-zitaten einzufliessen und so einen witzigen, überraschenden, oft aber auch nachdenklich stimmenden «Familienrapport» entstehen zu lassen, wie Scharegg sein neues Projekt nennt und für das gerade geprobt wird. «Familienrapport» deshalb, weil Scharegg die Eidgenossen als eine grosse Familie sieht, bei der gerade der Haussegen schief hängt.

Ist die Sinfonie wertvoller als die Stubete?

Was passiert mit dem Zugreisten, der in den letzten Verein des Dorfes, den Gesangsverein, eintreten will? Was unternimmt der Bundesrat, um die Unterwanderung der Kultur durch vermeintlich subversive Kräfte wie den Künstler Thomas Hirschhorn zu verhindern? Hatte das Avantgardistische nicht zu lange Vorrang vor dem Populären? Oder anders gefragt: Ist eine Beethoven-Sinfonie wirklich wertvoller als eine Stubete? Ist es nicht an der Zeit, die hochkulturelle Prätention gegen die familiäre Geborgenheit einzutauschen? Aber gibt es die überhaupt noch?

Fragen wie diesen und vielen anderen geht «Mamma Helvetia» nach. «Dahinter steckt ein langer Prozess: Zu schauen, was für Geschichten kann man mit Material erzählen, das schon vorhanden ist», so Regisseur und Autor Scharegg im Gespräch mit der «Südostschweiz». «Der Autor ist aber eigentlich das Land, und die Schweiz ist auch die Dramaturgin.» Dass der Bündner Scharegg schon lange in Berlin lebt, habe wenig Einfluss auf das Stück gehabt, glaubt er. «Es gibt natürlich eine gewisse Aussensicht, aber das Projekt wäre zu abstrakt geblieben, wenn ich nicht oft hier wäre und mit vielen Leuten sprechen würde.»

Liebeserklärung an die Schweiz

Grossen Einfluss hatte dagegen die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9.Februar, sagt Scharegg: «Wir waren mitten in den Recherchen zu diesem Stück, als diese intensive Diskussion über die Zukunft der Schweiz entbrannte. Die Frage des Grundsatzentscheids, der in drei Jahren gefällt sein muss – Öffnung oder Abschottung –, ist in ‘Mamma Helvetia’ sehr stark spürbar. Wäre die Abstimmung anders ausgegangen, wäre das wahrscheinlich nicht der Fall, denn jetzt diskutiert die Schweiz über sich selbst.»

Dies hänge, so Scharegg, nicht zuletzt mit der Globalisierung zusammen. «Die Globalisierung spült Kulturen weg. Sie sorgt zwar in Europa und vor allem in der Schweiz für wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand, aber sie zerstört die Identität, das, was Länder voneinander unterscheidet, wie etwa Sprachen und Dialekte. Alles, was eine Nation ausmacht, verändert sich oder es verschwindet sogar in einem rasanten Tempo. Die jungen Generationen wachsen heute nicht mehr mit Traditionen auf, alles andere ist reine Behauptung. Unser Stück stellt die sich daraus ergebenden Fragen nach der Funktion und Zukunft einer Nation.» Trotzdem – oder gerade deshalb – sei «Mamma Helvetia» eine Liebeserklärung an die Schweiz.

In seiner Konzeption erinnert «Mamma Helvetia» an Schareggs Anfang 2013 gezeigtes, sehr erfolgreiches Stück «Die Fremdenindustrie», das den Bündner Tourismus thematisiert. Graubünden und das Romanische spielen auch in «Mamma Helvetia» wieder eine wichtige Rolle, so etwa die Mutation des Romanischen zur exklusiven Kultsprache ausserhalb des angestammten Sprachraums.

Schweizweit bekannte Schauspieler

Auch die Musik kommt nicht zu kurz, denn dem Zitatenreigen wurden lustvoll Lieder aus allen vier Sprachregionen einverleibt. Mit von der Partie sind die schweizweit bekannten Schauspieler Felicitas Heyerick, Lorenzo Polin, Annina Machaz, Simon Käser und Peter Zumstein, deren Mehrsprachigkeit sie für die Mitwirkung an «Mamma Helvetia» geradezu prädestiniert. Premiere hat das Stück am 7. Januar im Theater Chur und eröffnet das Festival «Höhenfeuer». Danach geht das Schauspiel durch alle Schweizer Landesteile auf Tournee.

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