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Den Alltag in Sekunden …

Südostschweiz
23.11.14 - 01:00 Uhr

Schlimm findet Renato P. dies vor allem, weil seine Tochter als Pflegefachfrau arbeitet. «In einer Institution, die im Umgang mit dem Sterben, mit Trauer oder Verarbeitungsprozessen einen professionelleren Umgang an den Tag legen sollte.» Ganz anders als Vater Renato zog sich Manuels Schwester völlig zurück.

«Sie ist total in den Schmerz hineingegangen. Vielleicht zu sehr.» Das ging so weit, dass sie die Einträge der Unfallverursacherin auf deren Facebook-Account verfolgte. Am Tag des Prozesses gegen die Verursacherin gab sich Anina empört über das ihrer Ansicht nach «viel zu milde» Urteil: 14 Monate bedingt auf zwei Jahre sowie die Bezahlung einer Genugtuung in der Höhe von 24 000 Franken und der Gerichtskosten.

<strong>Diese Strafe bestätigte</strong> das Kreisgericht See-Gaster im abgekürzten Verfahren Ende August dieses Jahres. Die Anklage lautete auf «fahrlässige Tötung» und «Fahren in angetrunkenem Zustand». Susanne R. akzeptierte den Tatbestand von Beginn weg.

«Die kriegt eine bedingte Strafe und wir?» Das fragte Anina nach der Gerichtsverhandlung in Uznach. «Mein Bruder ist weg – er kommt nie wieder.» Tränen schiessen ihr in die Augen. Sie dreht sich weg, zieht an einer Zigarette. Sie zittert, sagt nichts mehr.

«Die», das ist Susanne R. Sie war an der Weihnachtsfeier einen Tag vor dem Unfall «stockhagelvoll», wie sie der Polizei zu Protokoll gab. Sie nahm deshalb ein Hotelzimmer und begab sich erst am nächsten Morgen auf die verhängnisvolle Fahrt Richtung Eschenbach. Anina P. will diesen Umstand nicht positiv gewichten. Der Verlust ihres Bruders geht ihr noch viel zu nahe. Die heute 26-Jährige hat inzwischen wieder eine Stelle. Dies und ein sehr guter Freundeskreis helfen ihr, ihr Leben in einem anderen Licht zu sehen und es neu zu ordnen.

In der Wohnung in Eschenbach steht ein Bild des verstorbenen Manuel. Kerzen, ein Engel und goldene Sterne umgeben ihn. Die Sterne hat Anina wenige Tage vor dem Unfall zusammen mit Manuel gekauft.

<strong>Zwei Fotobücher, </strong>die Manuels bester Freund, Beat S. – auch er Lokführer –, für die Familie zusammengestellt hat, stehen ebenfalls auf dem Gestell. Eines zeigt Bilder der Ausbildungszeit, eines Erinnerungen an die Kanada-Reise. Zwischen Beat S. und Manuels Vater Renato, die sich vor dem Unfall nicht kannten, hat sich eine Freundschaft entwickelt.

Beat S. und seine anderen Lokführer-Kumpels hatten, als sie von Manuels Tod erfuhren, eine bewegende Aktion für ihn durchgeführt. Auf den Überschriften der Loks, in welchen sie unterwegs waren, stand nicht der jeweilige Zielort angeschrieben, sondern: «Manuel, wir fahren für Dich.»

<strong>Vater Renato erzählt</strong> dies alles, ohne erkennbare Regungen. Man fragt sich, ob das echt ist. Oder verdrängt der Vater, der eines seiner drei Kinder zu Grabe tragen musste, das alles? Nein, es gehe ihm inzwischen «einigermassen», sagt Renato P. «Am Anfang habe ich alles verdrängt, aber dann wusste ich, was ich machen musste. Was für mich stimmte.»

Aber gerade jetzt, da es auf den ersten Todestag seines Sohnes am 14. Dezember zugehe, sei es schwierig. Er sei am 1. November, «wie so oft», am Grab seines Sohnes gewesen. Und da an diesem Feiertag mehr Leute als sonst auf dem Friedhof waren, seien einige auf ihn zugekommen und hätten Dinge gesagt wie: «Üs tschuderets jedes Mol, wemer Di gsehnd.»

Es gebe immer noch eine grosse Anteilnahme. Nicht nur am Grab. «Ich habe aus der ganzen Region Briefe erhalten. Viele Menschen – auch unbekannte – hätten ihre Anteilnahme in sehr persönlichen Worten kund getan.»

Renato P. schweigt. Was ist es denn, das er, wie er sagt, tun musste? «Ich redete offen über alles. Alles. Immer wieder.» Schon als er an diesem Samstag, an dem sein Sohn starb, seinen Arbeitgeber informieren musste. «Ich habe gesagt, was passiert ist.» Auch am Montag darauf. Renato P. fuhr ins Büro. Er sei auf seine Mitarbeiter zugegangen, die verstohlen und hilflos zu ihm hinschauten. «Die waren extrem froh darüber», sagt er. Er ist Vorgesetzter von 100 Angestellten bei einem Logistikunternehmen.

<strong>Renato</strong><strong> </strong><strong>P. geht einen</strong> gänzlich anderen Weg als seine Tochter, um mit dem Verlust und der Trauer umzugehen. Er sei an Orte gegangen, wo er schöne Erinnerungen an Manuel habe. In die Berge, etwa, wo sie zusammen ausgedehnte Wandertouren unternahmen. «Das hat mir sehr geholfen.» Dort oben, in der Ruhe der Berge, hätten sie über Gott und die Welt geredet. «Manuel war wie ich sehr gerne in den Bergen», sagt Renato P.

Manchmal war Vater Renato stundenlang alleine in den Bergen unterwegs, manchmal mit Freunden.» Geredet habe er dabei immer. «Ich führte Gespräche mit meinen Freunden, mit mir selber, aber auch mit meinem verstorbenen Sohn.» Auf Bergtouren sei er Manuel sehr nahe. Deswegen habe er zunächst überlegt, den Grabstein für seinen Sohn aus dem Gotthardmassiv hauen zu lassen. «Bis ich dann auf den Stein aus Kanada stiess.» Diesen hat er im Bündnerland entdeckt. Zufällig. Er sei auf einer Tour bei einem Steinmetz vorbeigekommen. «Ich sah diesen eher kleinen, hellen Stein. Fast wie Marmor. Er gefiel mir sofort.»

Als der Steinmetz sagte, der stamme aus Kanada, war für Renato P. klar: Der muss es sein. In den nächsten Wochen wird er geliefert und dann zu Manuel aufs Grab kommen.

* Alle Namen geändert.

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