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Das Ständemehr: Das Mehr der Konservativen

Die Mehrheit der Schweizer sagte Ja, dennoch wurde der Familienartikel abgelehnt. Das Scheitern am Ständemehr ist ein seltener Fall – der an Bedeutung gewinnen könnte.

Südostschweiz
04.03.13 - 01:00 Uhr

Von Hannes Grassegger

Bern. – «Es ist Zeit, eine Anpassung des Ständemehrs zu bedenken», fordert der Luzerner Politikwissenschaftler Olivier Dolder von Politikforschungsunternehmen Interface im Internet. Dort finden sich viele, die durch das Ständemehr Volkes Stimme übergangen sehen. Fakt ist: 54,3 Prozent der Stimmen unterliegen gegen 15 Kantone, so das Resultat der Abstimmung zum Familienartikel.

Ein Nein der Stände bei einer so klaren Volksmehrheit gab es zuletzt 1970. Damals begrüssten 55,4 Prozent eine Revision der Finanzordnung, 15 Kantone blockierten. Insgesamt scheiterten bisher neun Vorlagen am Ständemehr. Zuletzt 1994, als sowohl der Kulturförderungsartikel wie die erleichterte Einbürgerung junger Ausländer so gestoppt wurden. An der Verfassungshürde fast gescheitert wäre auch der UNO-Beitritt 2002.

Klein, ländlich, deutschsprachig

Um den Minderheitenschutz zu garantieren und kleine Kantone nicht an den Rand zu drängen, ist für Verfassungsänderungen das Mehr von Volk und Ständen vorgeschrieben. Es braucht also die Mehrheit der Kantone. Die Stimme eines Bewohners von Appenzell Innerrhoden wiege damit rund 40-mal so schwer wie die eines Zürchers, kritisiert auch Dolder. Effektiv erhalten kleine ländliche Kantone der Zentral- und Ostschweiz mehr Einfluss als die oft anders tickenden Ballungsräume und die Romandie. Politisch ist das Ständemehr ein Mehr an Konservatismus.

Entsprechend treten Spaltungen zutage, wenn es um Wertefragen geht. So beim Familienartikel: Ländliche Kantone verweigerten sich – Appenzell Innerrhoden 72,9 Prozent Nein; Uri 68,2 Prozent. Zürich (53,6 Prozent) und Genf (79,1) sagten Ja. Nun fühlen sich die Städter überstimmt.

Könnte die Regel bald wackeln?

Das Konzept des Ständemehrs sei zwar ehern, könnte aber wackeln, glaubt Ständerätin Anita Fetz (Basel-Stadt, SP). Wenn nämlich die Städte als Nettozahler anfangen würden, mit ländlichen Empfängerregionen Privilegien zu diskutieren. Diese Tendenz beobachtet auch Politforscher Andreas Ladner von der Uni Zürich.

Politiker aus ländlichen Region wollen sich auf solche Diskussionen erst gar nicht einlassen. Obwohl ihm das Ständemehr einen Strich durch die Rechnung macht, sagt CVP-Nationalrat Gerhard Pfister (Zug): «Alle Änderungen würden nur die Dominanz der Städte verstärken.»

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