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Camartin: «Man soll die Augen nicht vor dem Tod verschliessen»

Auf der Palliative-Care-Station am Standort Fontana des Kantonsspitals Graubünden in Chur ist der Tod allgegenwärtig. Trotzdem ist die Station «keine Sterbeabteilung», sagt Cristian Camartin. «Bei uns wird auch sehr viel gelacht.»

Südostschweiz
31.10.14 - 01:00 Uhr

denise Erni (text) und Olivia Item (Fotos)

«Ich habe keine Angst vor dem Tod», sagt J. De Conciliis*, schliesst die Augen, holt Luft und fügt hinzu: «Es ist etwas Natürliches.» Seit gut einem Monat ist die Frau hier im Fontana hospitalisiert. Sie liegt im fünften Stock, auf der Palliative-Care-Abteilung. Die 54-Jährige leidet an Krebs, hat einen Tumor im Bauch und Metastasen in den Knochen und in der Leber. Wie lange sie noch zu leben hat, weiss sie nicht. «Heutzutage geben die Ärzte keine Prognosen mehr ab.» Das Sprechen strengt sie an, ihre Arme sind ganz dünn. Essen könne sie schon lange nicht mehr, der Tumor drücke auf die Organe. Eigentlich wäre die gebürtige Engadinerin um diese Jahreszeit bereits wieder in ihrem Wohnsitz auf Malta, um zu überwintern. Der Krebs hatte im Sommer aber andere Pläne mit ihr. Nun liegt sie erschöpft und von der Krankheit gezeichnet im Bett und hofft, dass sie bald wieder aufstehen kann, die Kraft dazu zurückkommt. Gegen die Schmerzen bekommt sie starke Morphintropfen. De Conciliis öffnet ihre Augen, dann sagt sie: «Ich möchte meine Liebsten wieder einmal bekochen und mit ihnen das Essen geniessen.» Ob sich dieser Wunsch aber erfüllen wird, ist ungewiss. Das weiss sie. Sie sei zufrieden mit dem Leben, das sie leben durfte. «Ich bereue nichts», sagt sie und lächelt sanft. «Vielleicht gab es die eine oder andere Chance im Beruf oder bei Männern, die ich nicht gepackt habe. Aber nein, ich bin zufrieden.» De Conciliis ist bereit zum Sterben.

Würde für letzte Lebensphase

«Wir fragen unsere Patienten regelmässig, ob sie bereit zum Sterben sind», sagt Cristian Camartin, leitender Arzt der Palliative-Care-Station. «Man darf das auch aussprechen und soll die Augen nicht vor dem Tod verschliessen.» Das Sterben sei ein Prozess wie die Geburt. «Die Schweiz ist, was Palliative Care betrifft, ein Entwicklungsland», sagt der Arzt, der seine Ausbildung in London absolviert hat. «Man geht ja auch in den Geburtsvorbereitungskurs, warum verschliesst man dann die Augen vor dem Tod?»

Seit 2009 gibt es im Kantonsspital die akut Palliative-Care-Station. Von anfänglich sechs auf heute 14 Betten wurde die Abteilung stets ausgebaut und gehört schweizweit zu den grössten. «Wir sind keine Sterbeabteilung», betont Camartin. «Es ist sehr wichtig, dass Menschen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden und eine umfassende Pflege und Begleitung benötigen, früh genug zu uns kommen.» Die Palliative Care ist dazu da, schwer kranken Menschen etwas Lebensqualität zurückzugeben und die letzte Lebensphase in Würde zu gestalten. Schmerzen zu lindern, den Tod nicht um jeden Preis hinauszuzögern, aber auch nicht aktiv herbeizuführen. «Wer Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte, muss aus der Station austreten», macht Camartin klar.

Psychologische Betreuung

1000 Patientinnen und Patienten wurden in den letzten fünf Jahren auf der Station behandelt. «500 davon konnten nach Hause austreten, einige kamen dann ein weiteres Mal zu uns. 500 starben auf der Station», sagt Camartin. Wie geht er damit um, dem Tod täglich in die Augen zu blicken? Ist das nicht eine grosse Belastung? «Doch, vor allem, wenn jüngere Menschen, die noch kleine Kinder haben, betroffen sind. Das geht einem emotional schon näher, als bei älteren Menschen», sagt er. Dennoch würde er mehr Mühe haben, auf einer Kinderstation zu arbeiten. Obwohl die Sterblichkeitsrate dort geringer ist als auf «seiner» Station.

Für das Stationsteam gibt es alle zwei Monate psychologische Betreuung. Stirbt ein Mensch auf der Station, führen die Pflegenden ein Abschiedsritual durch, damit auch sie die Möglichkeit haben, sich vom Patienten zu verabschieden. «Dieser Prozess ist für uns sehr wichtig», sagt Camartin. Auch würden sie den Angehörigen ein Jahr nach dem Todestag eine Erinnerungskarte schicken. Dann fügt Camartin hinzu: «Auf unserer Station wird auch sehr viel gelacht.» Und wie aufs Stichwort hört man vom Flur her lautes Gelächter. Man glaubt es ihm.

Jeden Morgen um 9 Uhr findet der Rapport auf der Station statt. Mit dabei sind neben Camartin, eine Assistenzärztin, die Pflegefachfrauen und jemand vom Sozialdienst. «Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst, der Seelsorge und der Psychoonkologie ist sehr wichtig.» Im Rapport werden alle Krankengeschichten und -verlaufe besprochen. Dazu gehört auch die psychische Verfassung des Patienten und wie die Angehörigen mit der Situation umgehen. Im Durchschnitt bleiben die Patienten zwischen zwei und drei Wochen auf der akut Station. «Wenn wir sehen, dass sich eine Situation stabilisiert, suchen wir nach einer Lösung für den Austritt», erklärt Camartin. Sei es mit einem Heimplatz oder in der Familie mithilfe des Palliative Brückendienstes Graubünden. Laut Camartin möchten 80 Prozent der Patientinnen und Patienten zu Hause sterben. Die Realität sehe oft anders aus. Zudem fehlt es im Kanton an einem Sterbehospiz. Ein Ort, an dem Todkranke bis zum Schluss gepflegt werden.

Eintritt direkt auf Station

Nicht daheim, sondern ins Fontana zum Sterben kam eine 90-jährige Frau. «Sie sagte, sie komme die 60 Treppenstufen daheim nicht mehr hoch und komme nun zum Sterben», erinnert sich der leitende Arzt. Sie hatte einen riesigen Tumor im Bauch und keine Hoffnung auf Heilung. Sie war bereit zu gehen. «Nach rund drei Tagen war die Frau tot.» Der Vorteil der Palliative-Care-Station sei, dass man direkt eintreten kann – ohne das ganze Prozedere wie Blutentnahme, Röntgen und stundenlange Wartezeiten, wie es auf der «normalen» Notfallstation üblich ist. «Unsere Patienten sind jeweils sehr froh, wenn sie nicht über die Notfallstation müssen.» Drei Personen sind derzeit auf der Warteliste für einen Platz im 5. Obergeschoss.

Wohnung der Tochter sehen

Oft versuchen Camartin und sein Team, den Patienten ihren letzten Wunsch zu erfüllen. «Ich erinnere mich an eine Frau, bei der wir dachten, dass sie nicht mehr lange lebt. Ihr Wunsch war es, noch die Wohnung ihrer Tochter zu sehen», erzählt er. Da habe man schon einmal grosse Augen gemacht. «Dann fügte die Patientin hinzu, dass sich die- se Wohnung in Luzern befinde. Wir schluckten zweimal leer.» Der Wunsch konnte ihr erfüllt werden. Wenige Tage danach starb sie. Oder die Frau, die unbedingt noch ein letztes Mal unter ihrem Kirschbaum liegen wollte. «Mit der Ambulanz transportierten wir sie nach Hause und hingen die Infusionen an die Äste», erzählt Camartin. Auch sie konnte danach loslassen. «Der Gesichtsausdruck der Toten ist jeweils sehr eindrücklich.» Im Tod würde sich das Leben des Menschen oft widerspiegeln.

Camartin geht nun auf Visite. Als Erstes macht er Halt bei J. De Conciliis. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch ihr grösster Wunsch noch einmal erfüllt.

*Name der Redaktion bekannt; www.palliative-gr.ch; www.ksgr.ch/palliative-care.aspx

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