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Blinddarm und verflixte Kirschkerne

Dem Blinddarm wurde im Lauf der letzten Jahrhunderte einiges nachgesagt. Im Volksmund weitergereichte Überlieferungen wie das Gedicht der unbekannt gebliebenen Poetin Alwine Maier halten die Mythen aufrecht.

Südostschweiz
31.01.15 - 01:00 Uhr

Ein Kotstau oder Knick im «Appendix vermiformis», dem Wurmfortsatz des Blinddarms, sind die häufigsten Ursachen einer Blinddarmentzündung. Seltener kann auch eine durch Kirsch­steine oder andere Fruchtkerne ausgelöste Verstopfung zur Reizung des Wurmfortsatzes führen. Im Fall einer Entzündung muss der Wurmfortsatz entweder laparoskopisch – mittels Bauchspiegelung – oder offen mit Bauchschnitt entfernt werden.

Doch was steckt hinter den verflixten Kirschkernen? Alwine Maiers Gedicht entspricht insofern der Wahrheit, als dass Blinddarmentzündungen tatsächlich auch durch Fremdkörper, welche sich im Wurmfortsatz festsetzen, hervorgerufen werden können. Kirschkerne sind für die zirka zwei bis drei Millimeter grosse Öffnung zwischen Darm und Wurmfortsatz in den meisten Fällen aber bereits zu gross.

Theoretisch kommen Kerne anderer Früchte infrage, die Gefahr ist jedoch vernachlässigbar klein. In der Regel passieren die verschluckten Gegenstände den Magen-Darm-Trakt komplikationslos – vor allem, wenn es sich um kleine verschluckte Fremdkörper handelt. Eine Literatursuche zeigte 1998, dass es in den letzten 100 Jahren nur 256 Fälle gab, in denen Fremdkörper im Wurmfortsatz gefunden wurden. Komplikationen treten dann vor allem bei scharfen, dünnen, steifen, spitzen und langen Objekten auf.

In einer 1998 publizierten australischen Studie wurde dem Mythos der verflixten Kirschkerne deshalb auf den Grund gegangen. Es wurden insgesamt 1409 Patienten mit akuter Blinddarmentzündung untersucht, wobei lediglich in einem Fall ein Kirschstein als Ursache nachgewiesen werden konnte. Weitere Fallberichte über durch Kirschkerne verursachte Blinddarmentzündungen sind in der Literatur nicht zu finden. Dennoch oder gerade deshalb bleibt dieser Einzelfall im Gedächtnis hängen.

Dem Vater der Evolutionstheorie, Charles Darwin, verdankt der Blinddarm ausserdem seinen Ruf als nutz- und funktionslos gewordenes, rudimentäres Organ, welches deswegen teilweise sogar als «Abfallorgan» tituliert wird. In seinem Werk «Die Entstehung der Arten» erklärt er, wie sich die verschiedenen Spezies im Lauf der Jahrtausende und Jahrmillionen weiterentwickelt haben – durch Anpassung an äussere Umstände und natürliche Selektion. Teil dieser Assimilation war, dass viele Organe ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Sie bestehen nur noch als Rudimente aus vergangener Zeit fort.

Darwins Paradebeispiel für diese These ist der Blinddarm. Dieser stamme aus einer Zeit, als die Menschen noch reine Pflanzenfresser waren und den Blinddarm brauchten, um nicht spaltbare, organische Nährstoffverbindungen in der Nahrung mithilfe von Mikro­organismen zu nutzbaren Nährstoffen zu verarbeiten. Pferde hätten aus diesem Grund einen besonders stark ausgeprägten Blinddarm. Der Mensch kann zwar ohne den Wurmfortsatz problemlos leben, jedoch sollte das Organ nicht als gänzlich nutzlos bezeichnet werden. Es befindet sich nämlich Gewebe darin, welches der Abwehr von Krankheitserregern dient. Diese Funktion kann allerdings von anderen Abwehrzellen im Körper kompensiert werden, sodass eine Appen­dektomie (eine Entfernung des Wurmfortsatzes) keine negativen gesundheitlichen Folgen hat.

Das Verschlucken von Kirschkernen ist wohl eine der seltensten Ursachen einer akuten Blinddarmentzündung, sodass mit oder ohne Wurmfortsatz auch im kommenden Sommer ohne schlechtes Gewissen Kirschen – und der eine oder andere Stein – gegessen werden können. In diesem Sinne: guten Appetit.

Das Kantonsspital Glarus ist eine wichtige Drehscheibe der Gesund­heitsversorgung. In der Serie «Erstaunliches aus der Medizin» berichten Fachpersonen des Kantonsspitals Glarus regelmässig über Kurioses, Unbekanntes und Wissenswertes aus der Medizin.

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