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Bei Migräne nicht nur auf Medikamente vertrauen

Die Migräne ist eine regelrechte Volkskrankheit. Nur ganz allmählich ergründen Forscher die Hintergründe der Erkrankung, die auf einem komplexen Wechselspiel aus Erbanlagen und Umweltfaktoren beruht.

Südostschweiz
07.11.10 - 01:00 Uhr

Von Walter Willems

Meist kommen die Schmerzen anfallsartig, oft begleitet von Übelkeit und extremer Empfindsamkeit gegen Lärm, Licht oder sogar Gerüche. «Einen Migräneanfall kann jeder Mensch mal haben», sagt Arne May von der Universitätsklinik Eppendorf. May ist Vorsitzender der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. «Aber ein Migräniker ist laut Definition jemand, der schon mindestens fünf solche Attacken hatte.»Die Frequenz der Anfälle kann dabei äusserst unterschiedlich sein: Manche Menschen erleiden die Schmerzen nur gelegentlich, während Patienten mit der seltenen chronischen Migräne-Form mehr als 15-mal pro Monat heimgesucht werden.

«Völlig ausser Gefecht»

Eine Migräne kann wenige Stunden dauern, sich aber auch bis zu drei Tage hinziehen. «Das setzt einen völlig ausser Gefecht», erläutert die Neurologin Stefanie Förderreuther von der Universität München. «Viele Patienten erleiden jahrelang regelmässig Anfälle, manche schlucken dagegen täglich fünf bis sechs Tabletten.» Auffällig sind vor allem die vielen verschiedenen Formen, in denen die Beschwerden auftreten können. Bei der Migräne mit Aura kündigen optische Phänomene wie Lichtblitze die Attacke an, die hemiplegische Variante geht mit Bewegungsstörungen wie etwa Lähmungen einher, und bei der Migralepsie mündet der Kopfschmerz in Hirnkrämpfe.«Voraussetzung für eine Migräne ist eine genetische Veranlagung», betont May. Allerdings ermittelten Forscher die erblichen Grundlagen bisher nur für ein paar seltene Varianten wie etwa die familiäre hemiplegische Migräne. Der erste Genfaktor hinter der normalen Migräne wurde dagegen erst kürzlich entdeckt. Die Erbanlage rs1835740 reguliert den Hirnbotenstoff Glutamat, der schon lange im Verdacht stand, an dem Kopfschmerz beteiligt zu sein. Gerade dieser mit enormem Aufwand – untersucht wurden über 56 000 Europäer – ermittelte Risikofaktor zeigt, wie komplex die Mechanismen sein müssen: Denn die Genvariante steigert das Erkrankungsrisiko lediglich um 20 Prozent.

Einfluss der Hormone

Zu der genetischen Veranlagung müssen sich noch Umweltfaktoren gesellen – etwa Hormone. Im Kindesalter leiden beide Geschlechter noch ähnlich häufig an Migräne. Erst ab der Pubertät werden Mädchen deutlich anfälliger für diesen Kopfschmerz, der Frauen etwa doppelt so häufig zusetzt wie Männern. Weiteres Indiz für den Einfluss von Hormonen: Während der Schwangerschaft lassen die Attacken bei zwei von drei Frauen deutlich nach. In einer kritischen Phase können zudem bestimmte Auslöser eine akute Migräne-Attacke verursachen. Zu diesen sogenannten Triggern zählen vor allem Stress und alkoholische Getränke. Süssigkeiten und Schokolade lösen dagegen Studien zufolge keine Kopfschmerzen aus.

Keine Selbstmedikation

Triptane, also speziell auf Migräne abzielende Arzneien, steigern die Gefahr für sogenannten medikamenteninduzierten Kopfschmerz. Wer solche Schmerzmittel an mehr als zehn Tagen pro Monat schluckt, riskiert schnell chronische Dauerbeschwerden. Diesen Patienten hilft dann nur noch Entzug. Daher raten Experten bei häufiger Migräne eindringlich von der Selbstmedikation ab. «Spätestens bei drei bis vier Attacken pro Monat sollte man einen Neurologen konsultieren», betont May.Auch wenn sich die Schmerzen meist medikamentös lindern lassen, plädiert der Mediziner für andere Behandlungsansätze. Dazu zählen regelmässiger Ausdauersport und Entspannungsübungen, vor allem aber ein Verhaltenstraining zur Stressbewältigung. «Bei regelmässiger Migräne sollte man nicht nur auf Arzneimittel vertrauen», sagt May. «Nur wer bereit ist, sein Leben umzustellen, wird im Kampf gegen die Schmerzen Erfolg haben.»

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