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Alte Handwerke werden in der Val S-charl erlebbar gemacht

Zum 100-jährigen Bestehen des Schweizerischen Nationalparks hat die Gemeinde Scuol alte Handwerke in S-charl aufleben lassen. Der strömende Regen wurde an der offiziellen Feier am Samstag einfach ignoriert.

Südostschweiz
28.07.14 - 02:00 Uhr

Von Fadrina Hofmann (Text) und Rolf Canal (Bilder)

Scuol. – Bevor im Jahr 1914 der Schweizerische Nationalpark gegründet wurde, galt das Seitental S-charl bei Scuol als kleine industrielle Hochburg. Es gab Blei- und Silberbergwerke, Kalkbrennereien und Kohlenmeiler. Die Spuren dieser Zeiten sind noch heute gut sichtbar. Seit Juli sind diese alten Handwerke wieder live erlebbar. Die Gemeinde Scuol hat Aktivitäten organisiert, welche aufzeigen, wie das Gebiet einst genutzt und bewirtschaftet wurde. Noch bis zum 9. August können die Handwerke in S-charl erlebt werden. Am Samstag hat das Hauptfest mit einer Führung zu vier verschiedenen Posten stattgefunden.

Fitnesstraining der anderen Art

Trotz Regen und tiefen Temperaturen versammelten sich rund 30 Interessierte, vorwiegend Einheimische. Der Rundgang startete bei Riccardo Nesa und Anna Mathis Nesa. Sie demonstrierten, wie die Bäume vor gut 70 Jahren von Hand gefällt wurden. Mit Axt und Hobelzahnsäge machten sich die beiden Forstingenieure aus Scuol an die Arbeit. Es galt eine über 90-jährige Lärche zu fällen. «Die Axt war das Werkzeug des Forstwarts schlechthin», erzählte Nesa. Damit wurde beispielsweise die Kerbe in den Baum geschlagen. Erst dann kam die Hobelzahnsäge zum Einsatz, geführt von zwei Personen. «Als ob man den Geigenbogen über die Saiten ziehen würde», sagte Nesa zur gleichmässigen Arbeitsbewegung. Wie der Baum falle, hänge dann unter anderem von der Baumart und von der Astdichte ab, erklärte der Experte. Mit Spannung verfolgten die Zuschauer, wie die Lärche mit erstaunlicher Präzision auf den ausgemessenen Ort fiel. «Die Handholzerei ist eine schöne Arbeit, und man spart sich das Fitnesstraining», meinte Mathis Nesa nach getaner Arbeit mit einem Augenzwinkern.

Holz war früher für zahlreiche Arbeiten notwendig, auch für die Kalkbrennerei. Die Verarbeitung vom Dolomitstein zum Baustoff Kalk gehört zu den ältesten Produktionsverfahren. Joannes Wetzel hat sich die Kalkbrenntechnik mit Hilfe von viel Literatur und «Learning by doing» angeeignet. In der Val S-charl brennt er diesen Sommer insgesamt während vier Wochen einheimischen Stein zu Kalk. Am Samstag wurde der von ihm reaktivierte Kalkbrennofen in Betrieb genommen. Gespannt betrachteten die Schaulustigen, wie der Maurer und Sgrafitto-Künstler aus Pradella das Feuer mit traditionellen Hilfsmitteln entzündete: mit Feuerstein, angekohlter Baumwolle und geschmiedetem Eisen. Nach kurzer Zeit loderten die Flammen, wenig später stieg Rauch aus dem Kalkbrennofen. Eine Woche lang muss das Feuer permanent brennen – ein 24-Stunden-Job, den Wetzel nur mithilfe von Freunden und Bekannten meistern kann. 50 Ster Holz werden verbrannt, 1000 Grad heiss muss es im Innern des Ofens werden, zehn bis 12 Tonnen Kalk soll das Ergebnis schlussendlich betragen. «Man muss die Traditionen erhalten», meinte Wetzel über seine Faszination für die Kalkbrennerei.

Für den Erhalt der Traditionen

Wenige Meter weiter erwartete Doris Wicki die Besucher beim Kohlenmeiler. Sie kommt aus dem Entlebuch, ist eigentlich Coiffeuse und hat das alte Handwerk von ihrem Vater und ihren Brüdern gelernt. Am vergangenen Montag wurde der Kohlenmeiler errichtet, am Tag danach angezündet. Seither muss Wicki alle zwei Stunden nachfeuern. Am Samstag war der Verkohlungsprozess schon fast beendet. Wie ein grosser, schwarzer, dampfender Ameisenhaufen sah der Kohlenmeiler aus. Aus Löchern quoll dichter Rauch. «Ausnahmsweise habe ich Arve statt Buche verwendet. Die Kohle sieht sehr gut aus», meinte die Frau, die auch im Präsidium des europäischen Köhlervereins ist. Sollte es am nächsten Tag nicht regnen, wolle sie den Kohlenmeiler öffnen und die «Luxuskohle» zum Verkauf anbieten.

Am letzten Posten des Rundgangs begannen vor allem die Augen der kleinen Jungen zu leuchten. Hier präsentierte Christoph Jäggi, wie im Mittelalter Münzen geprägt wurden. Die Münzen bestanden aus Silber und wiesen eine vierzipflige Form auf. «Die Münzen waren damals so dünn, weil die Silberminen im Schwarzwald zu wenig Silber liefern konnten», erklärte der gelernte Goldschmied den Anwesenden. In einem zeitaufwendigen Verfahren wurden Silberbarren mit einem Hammer ausgeschmiedet. Geprägt wurden die Münzen je nach Münzherr mit einem anderen Symbol. Wer Lust hatte, konnte nach der Präsentation der Prägekunst auch selber das mittelalterliche Handwerk erlernen – und mit einem Pfenning von Paul Ziegler, Bischof von Chur (1505–1541), nach Hause fahren.

Weitere Informationen zu den Jubiläumsaktivitäten in S-charl gibt es auf www.nationalpark.ch/go/jubiläum.

Radio Grischa strahlt heute Mittag eine Radioreportage aus dem Museum Schmelzra in der Val S-charl aus. Der Beitrag ist um 12.20 Uhr auf Radio Grischa für Südbünden und um 12.50 Uhr auf Radio Grischa für Nordbünden zu hören.

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