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«Wir haben Grund, stolz auf unsere Kultur zu sein»

Giovanni Netzer, Intendant des Origen-Kulturfestivals in Riom, widerspricht der These, wonach Graubünden momentan eine fundamentale Krise durchlebt. Ein Beitrag zur Serie «Alles schwarz in Graubünden?»

Südostschweiz
25.05.16 - 18:06 Uhr
La Quotidiana

Mit Giovanni Netzer sprach Valerio Gerstlauer

Graubünden stecke tief in der Krise, konstatierte die Zürcher Zeitung «Tages Anzeiger» in ihrer Ausgabe vomvergangenen Samstag.Tourismus, Bauwirtschaft und die Bergdörfer würden darben, das Selbstbewusstseinder Bündner sei im Keller. Giovanni Netzer, Intendant des Origen-Kulturfestivals in Riom, hält von dieser Schwarzmalerei wenig. Dennoch sieht er Handlungsbedarf. Ihm fehlen vor allem langfristig angelegte Projekte, die den Geist früherer Pionierleistungen atmen.


Herr Netzer,derzeit wird das Bild eines im Niedergang befindlichen Kantons Graubünden gezeichnet. Als wie schlimm empfinden Sie die Situation aus der Warte eines Kulturschaffenden im Oberhalbstein?

GIOVANNI NETZER: Ich glaube nicht, dass der Kanton Graubünden in einer fundamentalen Krise steckt. Krisen gibt es im Nahen Osten, in Afrika und in Südamerika. Uns geht es gut. Die ständige Angstmacherei, in der sich Politik und Medien gegenseitig übertrumpfen, empfinde ich zunehmend als eine Frechheit gegenüber allen Menschen auf der Welt, denen es wirklich schlecht geht. Graubünden hat ein paar Probleme, die der Kanton in die Hand nehmen muss. So wie wir es immer wieder getan haben. Graubünden hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt,dass es ungeahnte Kräfte entwickeln kann – denken Sie zum Beispiel an die grossartigen Pionierleistungen des 19.Jahrhunderts. Vor 150 Jahren hat sich der Kanton komplett neu erfunden. Es gab immer wieder Menschen und Organisationen, die sehr viel bewirkt haben.

Gilt das auch für die Kultur?

Graubünden ist ein Ort mit einem immensen kulturellen Potenzial – das allerdings friedlich vor sich hin schlummert und nicht ausgeschöpft wird. Kultur ist eine nicht versiegende Kraftquelle, die die Menschen immer wieder zu künstlerischen Höchstleistungen angespornt hat. Sie schafft Selbstvertrauen in die eigene Kreativität, sie setzt qualitative Ziele, sie fördert den sozialen Zusammenhalt,sie lässt den Menschen über sich hinauswachsen – und ist damit die beste Medizin gegen echte und herbeigeredete Krisen.Oder anders gesagt: Den Kanton Graubünden «rettet» man weder mit touristischem Aktionismus noch mit gepflegter Angstkultur. Es geht um Selbstvertrauen, um Mut, um Pioniergeist, um Kraft und Durchhaltewillen – um all die schönen alten Kategorien, die wir einem leeren Ökonomismus geopfert haben.


In Ihren Augen wurden also durchaus Fehler gemacht. Was hat man versäumt?

Was ich in Graubünden in den vergangenen Jahrzehnten vermisst habe, sind die mittel- bis langfristig geplanten Aufbrüche, bei denen man sagte, wir nehmen etwas systematisch in die Hand, wir haben den Mut,Projekte zu entwickeln, wir sitzen Durststrecken aus, wir berufen uns auf die eigenen Stärken und versuchen, daraus etwas zu machen. Das gilt aber nicht nur für den Kulturbereich, sondern für alle Bereiche. Von radikalen Schnelllösungen, wie sie in den vergangenen Jahren propagiert wurden, halte ich wenig. Die Reaktionen auf den Artikel des «Tages-Anzeigers» sind symptomatisch für die jetzige Situation. Wenn eine grössere Schweizer Zeitung schreibt, Graubünden sei in der Krise,dominiert diese Meinung eines einzelnen Journalisten die gesamte Medienlandschaft und die laufenden Grossratssitzungen. Da steht der ganze Kanton Kopf und ärgert sich – anstatt kluge Projekte an die Hand zu nehmen.

Wo sehen Sie ausserhalbder Kultur ungenutzte Potenziale in Graubünden?

Überall lauert Einzigartigkeit, wenn wir den Mut haben, sie zu leben. Wir sind zu fleissigen Kopisten verkommen, die nur noch Erfolgsrezepte anderer abschreiben. Letztlichist es vor allem eine mentale Frage, ob die einzelnen Meinungsbildner und Leistungsträger mutig oder ängstlich in die Zukunft blicken.

Müssen im Kulturbereich vor allemgrosse Projekte realisiert werden, um neue Impulse zu setzen?

Kultur ist nicht dafür gemacht, innerhalb von zwei Wochen eine ökonomische Situation zu ändern. Kultur kann aber Selbstbewusstsein vermitteln: Wir sind kulturell ein starker Kanton, und wir haben Grund, stolz auf unsere Kultur zu sein. In der Kultur geht es um eine schöpferische Haltung, dass man sich zutraut, kreativ zu sein – gerade in Zeiten,in denen man neue Ansätze braucht. Der Wert der Kultur besteht nicht darin, irgendeinen Event zu kreieren, von dem man dann glaubt, dass er den Kanton wirtschaftlich retten kann. Es geht um die sehr viel grundsätzlichere Frage,obwir glauben, dass wir genug kreatives Potenzial haben,um den Kanton in allen Bereichen weiterzuentwickeln. Die Kulturschaffenden, die von ihrem Beruf her kreativ sein müssen, können dadurch eine Vorreiterrolle einnehmen.

Haben Sie das Gefühl, dass die Politik das Potenzial der Kultur erkannt hat?

Die Politik beteuert bei jeder zweiten Gelegenheit,dass die Bündner Kultur einzigartig und vielfältig sei. Wenn es darum geht, dieses Lippenbekenntnis in Taten umzusetzen, dann hapert es. Dieses so vielfältige Kulturgut darf nichts kosten. Jeder Rappen wird 20-mal umgedreht, und eine minimale Budgeterhöhung wird als Staatskrise gehandelt. Die jetzige Diskussion zum neuen Kulturförderungsgesetz ist deshalb genaudie richtige. Dort geht es auch nicht um eine kurzfristige Eventparade, sondern um eine substanzielle Investition in die Kultur,die vielfältige Effekte hat.

Erkennen denn wenigstens gewisse Gemeinden den Nutzen der Kultur, beispielsweise bei Ihnen im Oberhalbstein?

Sicher. Wir arbeiten sehr konstruktiv mit der Gemeinde Surses und unseren Nachbargemeinden zusammen.Das Origen-Kulturfestival hat ja auch verschiedene Effekte. Origen funktioniert wie eine Institution,ein kleines Unternehmen, das Kultur kreiert, Arbeitsplätze schafft, Häuser umbaut, soziale Netze stärkt. Wir investieren in die lokale Wirtschaft, wir bringen Gäste ins Tal und schaffen ihnen eine Heimat auf Zeit. Kultur steckt momentan in Graubünden aber in den Kinderschuhen. Sie ersetzt nicht den Wintertourismus. Aber in der Kultur steckt enormes Entwicklungspotenzial, das langfristig entwickelt werden muss.

Gibt es eine Methode,wie Talschaf-tenihreureigenenkulturellen Potenziale aktivieren und nutzen können?

Ja. Jeder sollte sein Tal einmal im Leben verlassen, für ein paar Jahre weggehen, und dann wiederkommen. Am besten erkennen wir in der Fremde, wie reich wir sind, wo Handlungsbedarf besteht, wo Potenziale schlummern. Graubünden wurde von den Emigranten erfunden, nicht von den Stubenhockern.

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