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«Es gibt für jeden Menschen die richtige Arbeit»

Bei der Sicherung der Renten geht es gar nicht um die blosse Anhebung des Rentenalters, sagt Demografie-Experte Hans Groth im Interview. Der Schlüssel liege vielmehr darin, die Menschen länger und vor allem flexibler arbeiten zu lassen. Sie wollten das Gefühl haben, gebraucht zu werden.

Südostschweiz
21.08.15 - 10:00 Uhr
La Quotidiana

Wie lange ist unsere Altersvorsorge noch gesichert? Hans Groth ist überzeugt, dass die Lösung nur darin bestehen kann, die Leute möglichst lange im Arbeitsprozess zu halten. Gefordert sind aber auch die Arbeitgeber: Sie müssen älteren Mitarbeitern das Gefühl geben, gebraucht zu werden. Hans Groth ist Präsident des World Demographic & Aging Forums in St. Gallen. Der Mediziner hat bis 2012 für den US-Pharmakonzern Pfizer gearbeitet. Seit sechs Jahren lehrt er an der Universität St. Gallen (HSG).

Herr Groth, die Alterung der Gesellschaft setzt die Sozialsysteme unter Stress. Was ist das Kernproblem?

Hans Groth: Vielleicht sollte man gar nicht von demografischer Alterung sprechen, sondern von Lang­lebigkeit. Die Leute leben länger. Das biologische Alter hat nichts mit dem numerischen Alter zu tun. Wir sind mit 65 Jahren nicht schlagartig alt. Unsere Gesellschaft ist aufgebaut auf einem System, das lange richtig war – ab 60 oder 65 werden Menschen alt und müde. Darauf haben wir unsere Sozialsysteme aufgebaut. In der Nachkriegszeit hat sich das biologische vom numerischen Alter entfernt, im Schnitt jedes Jahr um drei Monate. Die Sozialsysteme haben diese Änderung nicht nachvollzogen.

Die Menschen sind also nicht mehr alt, wenn sie in Rente gehen.

Ja. Hinzu kommt noch ein anderes Problem. Die Sozialsysteme sind entweder direkt auf Umverteilung aufgebaut oder indirekt über das produktive Kapital. Die Rente muss also von denen erarbeitet werden, die noch arbeiten. Seit 1971 gehen unsere Geburtenraten zurück. Damit funkti­oniert die Umverteilung nicht mehr. Und gleichzeitig sind die Leistungen der Sozialsysteme immer weiter ausgebaut worden. Da helfen auch Kapitallösungen nicht unbedingt – derzeit haben wir ja zu viel Geld, das keine produktiven Anlagen findet.

Wo ist die Lösung?

Der Schlüssel der Altersvorsorge liegt nicht darin, wann man in Rente geht und wie hoch dann der Umwandlungssatz ist. Der Schlüssel liegt darin, dass man die Leute möglichst lange in einem produktiven Verhältnis hält.

Geht es nicht am Ende trotzdem um ein späteres Renteneinstiegsalter?

Es klingt negativ, wenn man einfach sagt, die Leute bekommen zwei Jahre später ihr Geld. Wenn Sie die Herausforderung allein über das Rentenalter lösen wollen, dann müssten Sie von einer Rente mit 72 sprechen – das wäre politisch nicht durchsetzbar. Der Schlüssel liegt im Arbeitsmodell.

Heute arbeitet man bis zum Tag X, und am Tag X plus eins überhaupt nicht mehr. Ist das noch sinnvoll?

Das ist völlig obsolet. Man darf den Leuten nicht einfach mit 65 sagen, man brauche sie nicht mehr. Sondern man muss schon eher anfangen, mit den Menschen gemeinsam eine Perspektive aufzubauen. Das kann mit 50 beginnen und bei 70 aufhören.

Die Arbeit muss also in den letzten Arbeitsjahrzehnten anders organisiert sein?

Richtig. Wir müssen uns fragen, wie und wann wollen wir in unserem Leben arbeiten.

Also ohne festes Renteneintrittsalter?

Die Biologie ist bei jedem Menschen anders. Es braucht ein flexibles Modell. Aber die Arbeitgeber müssen die älteren Leute auch wollen.

Wie bringt man die Arbeitgeber dazu?

Viele Menschen arbeiten gern. Aber man muss als Arbeitgeber richtig mit ihnen umgehen. Und sie brauchen die richtigen Rahmenbedingungen: Man muss auch mit 50 Jahren wieder eine neue Ausbildung machen können.

Wenn die Leute die Wahl zwischen Arbeit und Rente haben, werden die meisten die Rente wählen.

Menschen wollen Nutzen stiften. Die Selbstständigen finden sowieso ihren Weg. Die Angestellten hatten bisher diese Leitplanken gehabt, die sie mit 65 aus der Arbeit in die Rente gelotst haben.

Ist es dann Aufgabe der Arbeit­geber, die Leitplanken auf längere Arbeitszeit auszurichten?

Richtig. Die Arbeitgeber müssen die Stärken ihrer Mitarbeiter kennen und sie maximieren. Nur müssen sie frühzeitig anfangen, ihre Mitarbeiter auf die letzten Jahre in der Arbeitswelt einzustimmen. Sie können von ihnen nicht verlangen, immer wieder das gleiche zu machen. Es braucht eine Lebensplanung. Dafür braucht die Mehrzahl der Leute Hilfe. Das ist die Verantwortung der Arbeitgeber, das ist aber auch ein enormes Potenzial für sie. Es gibt für jeden Menschen die richtige Arbeit. Sie brauchen nur das Gefühl, gebraucht zu werden. Aber vergessen Sie nicht: Das Problem löst sich 2060 von ganz allein.

Warum?

Dann kommt die Verteilung der Altersgruppe in ein neues Gleich­gewicht. Wir haben derzeit das Problem, dass die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit allmählich in Rente gehen und die geburtenschwachen Jahrgänge nach 1970 die Rente finanzieren müssen. Doch eines Tages gehen auch diese geburtenschwachen Jahrgänge in Rente. (von Steffen Klatt)

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