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Leicesters triumphaler Titelgewinn

Leicester City schreibt die faszinierendste Geschichte seit der Premier-League-Gründung 1992. Dank dem Punktverlust Tottenhams (2:2 gegen Chelsea) sichern sich die Foxes den ersten Titelgewinn.

Südostschweiz
02.05.16 - 23:05 Uhr
Fussball

Die fernen (Meister-)Beobachter aus Leicester hatten bis zur grossen Trendwende zu ihren Gunsten über 96 Minuten lang zu leiden. Tottenham war dank dem 25. Treffer von Topskorer Harry Kane und dem perfekten Abschluss Sons unmittelbar vor der Pause zur 2:0-Führung gegen Chelsea gestürmt. Die Reaktion des entthronten Titelhalters blieb nicht aus. Innerhalb von 25 turbulenten Minuten erzwangen die Blues dank einer Doublette von Gary Cahill und Joker Eden Hazard das Comeback in einem teilweise gehässigen Londoner Derby. Im Finish entglitt den an der Stamford Bridge auch im 26. Anlauf in Folge erfolglosen Spurs nicht nur die Chance auf den ersten Titel seit 1961, sondern auch mehrfach die Beherrschung.

Der im "Theatre of Dreams" von Manchester tags zuvor gegen den Rekordmeister erkämpfte Punkt war für Leicester letztlich Gold wert. In der üblicherweise unspektakulären Stadt am Motorway M1 löste das Londoner Derby-Remis im Nachtrag zur 36. Runde regelrechte Eruptionen aus. Die Anhänger reagierten im positiven Sinn fassungslos. Der Coup des lange nahezu namenlosen Vereins aus den East Midlands ist kaum hoch genug einzustufen.

Vor zwei Jahren erst ist er aufgestiegen, im März 2015 drohte der direkte Rückfall in die zweite Klasse. Und nun steht der krasse Aussenseiter Leicester zuoberst, der Klub mit der 1:5000-Meisterquote verdrängt erstmals seit den Blackburn Rovers vor 21 Jahren die Tenöre aus den Zentren London und Manchester von der Spitze des nationalen Rankings.

Der grandiose Coup erinnert an den ersten und bislang einzigen Titeltriumph von Nottingham Forest. 1978 stürmte der Aufsteiger unter Brian Clough mit nur drei Niederlagen in 42 Runden an die Spitze. Dank herausragenden und vor einem Jahr weitgehend unbekannten Figuren wie Riyad Mahrez, Jamie Vardy, Danny Drinkwater oder N'Golo Kanté schrieb Leicester im ähnlichen Stil Geschichte.

Ranieris Antwort

Im letzten Sommer drängte das Management nach diversen disziplinarischen Verfehlungen auf einer Promo-Tour in Asien auf das Engagement eines neuen Trainers: Claudio Ranieri kam, der Römer mit prominenten Ex-Arbeitgebern, aber überschaubarem Palmarès. Während drei Dekaden hatte der 64-Jährige weder mit Juventus noch mit Chelsea oder Atletico Madrid je einen Titel gewonnen. Eigenen Angaben zufolge hätten ihn die Vorgesetzten im letzten Juli bekniet, alles zu unternehmen, um nicht abzusteigen.

"Claudio Ranieri? Wirklich?", twitterte Gary Lineker spöttisch. "Gary Goal", der frühere Star-Stürmer Englands und heutige BBC-Moderator, der aus Leicester stammt, empfing den Italiener so skeptisch wie alle übrigen Kommentatoren auf der Insel. Als Bastler und Kesselflicker verunglimpften sie ihn. Einem Coach, der Griechenland in der letzten EM-Ausscheidung nicht vor einer blamablen Heimpleite gegen die Färöer bewahren konnte, traute kein Experte etwas zu. Nun dürfte die BBC den "St. Claudio's Day" ausrufen.

Der Tycoon im Hintergrund

Der imposante Höhenflug ist teilweise auch das wunderbare Ergebnis von zufälligen Entwicklungen und glücklichen Fügungen. Der milliardenschwere thailändische Tycoon Vichai Srivaddhanaprabha beispielsweise spielte im Hintergrund als smarter Investor eine Schlüsselrolle. Er stieg ein, als sich für Leicester auf zweitklassigem Level niemand ernsthaft interessierte.

Sein Engagement im Fussball-Business kann sich der Asiate leisten - der King-Power-Eigner soll sein Vermögen innerhalb von acht Jahren nach Schätzungen von "Forbes" auf 2,9 Milliarden Dollar ausgeweitet haben. Der Duty-Free-Unternehmer sorgt dafür, dass sich der wirtschaftlich im Verhältnis zu den Cash-Maschinen ManU, Chelsea oder Liverpool irrelevante Klub sorgenfrei auf das Kerngeschäft konzentrieren kann.

Inlers persönliches Drama

Nur einer wird die globale Fussball-Sensation womöglich immer auch mit einem persönlichen Drama verbinden: Gökhan Inler, der Schweizer, der vor knapp zehn Monaten als Hoffnungsträger gekommen ist und mittlerweile an Spieltagen nicht einmal mehr zum Kader gehört - 2016 stand er während keiner Sekunde auf dem Premier-League-Rasen.

Inler war bei der faszinierendsten Story seit Jahrzehnten nur ein Statist mit 195 Minuten Einsatzzeit. Derweil sein Club triumphierte und alles gewann, verlor der Dauer-Reservist Inler im Nationalteam zuerst viel Kredit, dann das Captain-Amt und in Kürze auch offiziell seinen Startplatz an der kommenden EURO in Frankreich.

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