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«Outen? Ich hätte es auch als Romanischsprachige tun können …»

Die Flimser Snowboardcross-Fahrerin Simona Meiler wohnt und studiert in Zürich. Die «Südostschweiz» traf die 26-Jährige in ihrer zweiten Heimat zum Gespräch über sportliche Enttäuschungen der letzten zwei Jahre, den optimistischen Blick nach vorne, ihr «Fremdgehen» letztes Jahr im Austria-Team, Crowdfunding und die (Nicht-)Bedeutung von Homosexualität im Snowboardsport.

Südostschweiz
24.11.15 - 17:31 Uhr
Sport

von Kristian Kapp

«Obwohl ich noch nie so gut vorbereitet und derart motiviert in eine Saison gestartet bin, blieb ich klar unter meinen Erwartungen, Hoffnungen und Träumen. Ich bin enttäuscht, frustriert und mental erschöpft. Ich versuche mich daran festzuhalten, dass Olympia, mein Saisonhöhepunkt, mein bestes Rennen war und dass ich Snowboarden liebe. Und jetzt geniesse ich noch die letzten Sonnenstrahlen am Weltcupfinal in Spanien.»

Die Sonnenstrahlen ob Zürich haben an diesem milden Herbsttag ihren Kampf gegen die Dunsthaube über der Stadt noch nicht gewonnen, als Simona Meilers Augen diesen Zeilen auf dem Handydisplay folgen. Wir sitzen auf einer der Holzbänke auf der Polyterrasse, die anderen sind leer. Nur ein osteuropäischer Tourist ist noch hier und versucht, sich auf Selfies mit der Zentralbibliothek und der Predigerkirche im Hintergrund zu verewigen. In knapp drei Stunden, wenn die ETH-Studenten in der Mittagspause ins Freie strömen, wird der Platz voll, werden die Bänke begehrt und bis auf den letzten Platz besetzt sein. Wir sind hier, «weil die Aussicht so schön ist», sagt Meiler. Und auch, weil sie hier immatrikuliert ist und in den letzten fünf Jahren als Studentin von  Umweltnaturwissenschaften unzählige Stunden auf dem Campus verbracht hat.

Die Enttäuschung, die Erschöpfung. Es waren Meilers Worte in einem Eintrag auf Facebook, 30 Tage nach Sotschi. Sie liest, jetzt, 20 Monate später, aufmerksam noch einmal Wort für Wort und stellt fest: «Dieser Text ist schon ziemlich traurig. Aber das waren meine Gefühle nach diesem Winter.» Waren es die Emotionen, die sie übermannt hatten oder doch ein bewusster Versuch von Frustabbau? «Beides. Ich bin kein Hitzkopf, der irgendwas Unüberlegtes postet. Aber Sport lebt von Emotionen, darum darfst du auch mal nicht nur nüchtern über Zahlen und Resultate schreiben. Ich wollte herausstreichen, dass ich mit der Saison nicht zufrieden war, aber als Highlight dennoch die Olympischen Spiele mitnehme.» Der zehnte Platz in Sotschi, der so schlecht ja nicht tönt, war Meilers bestes Saisonergebnis. «Aber ich blieb im Weltcup permanent unter meinen Erwartungen», präzisiert sie. Und doch sei dieser Text ein gutes Beispiel, wie sich Gefühle mit Distanz verändern können, sagt Meiler. «Geblieben sind die positiven Punkte. Ich verdränge die negativen nicht, aber ich kann sie in Erfahrungen und Lehrstücke umwandeln.»

«Wenn es anderen hilft …»

Sotschi brachte viele gefeierte sportliche Schweizer Heldinnen und Helden hervor, auch komplett unerwartete. Simona Meiler, die sich fest vorgenommen hatte, eine Medaille zu gewinnen, gehörte nicht dazu. Beim Stöbern in den Archiven der Schweizer Medien fällt auf: Schlagzeilen wurden ihr bei Olympia 2014 bereits im Vorfeld auch als «einzige geoutete Schweizer Athletin in Sotschi» gewidmet. Damit schaffte sie es zum Beispiel in die «Annabelle» und die Liste der «Frauen, die uns gefallen, weil sie auffallen». Dabei will sie damit gar nicht auffallen, sagt Meiler. «Und ich präzisiere: Ich war die einzige medial geoutete. Ich wage zu behaupten, dass ich nicht die einzige homosexuelle Athletin in Sotschi war.» Das Schweizer Fernsehen hatte sie im Zusammenhang mit dem Coming-out des deutschen Fussballers Thomas Hitzlsperger für ein Interview angefragt. «Und wenn es anderen hilft, äussere ich mich gerne dazu», sagt Meiler. Zwar wolle sie ihre Aufmerksamkeit in den Medien wegen sportlichen Leistungen erhalten. «Ich bin nicht daran interessiert, mein Privatleben an die grosse Glocke zu hängen.» Und doch hatte es auch für Meiler persönlich ihre Wichtigkeit, darüber zu reden: «Um deine Bestleistung abzurufen, stehst du dir selber im Weg, wenn du ein grosses Geheimnis in dir herumträgst. Ich betonte aber, dass ich als Snowboarderin nach Sotschi gehe und dass dies nichts mit meiner Sexualität zu tun hat. Ich bin aber keine, die das geheim hält, da ich zum Glück ein so tolles Umfeld habe, das es akzeptiert und es darum kein Thema ist.»

Zum grossen Thema wird es, wenn Olympische Spiele in einem Land stattfinden, dessen Staatsoberhaupt im Vorfeld homosexuelle Athletinnen und Athleten willkommen heisst, sie aber bittet, «die Kinder in Ruhe zu lassen». In Russland selbst habe sie keine Diskriminierungen erlebt, sagt Meiler: «Das olympische Dorf war völlig abgeschlossen von allem, ich war einfach eine Sportlerin wie alle anderen auch.» Schon gar kein Thema sei es in der Snowboardszene und vor allem in ihrem Alltag, sagt Meiler: «Das ist eine Frage unserer Gesellschaft. In der Schweiz, in Zürich, in meiner Generation, in meinem Umfeld ist das so. Mich outen? Ich hätte dies auch als Romanischsprachige tun können, da gehöre ich ja ebenso zu einer Minderheit …»

Der Kontakt mit dem alten Trainer

Als Sotschi Vergangenheit war und auch die Saison zu Ende ging, schwirrten Fragen durch Meilers Kopf: «Und was jetzt? Will ich weitermachen? Wenn ja, wie?» Irgendetwas musste sich ändern. Sie kontaktierte René Van den Berg, ihren Trainer aus alten Zeiten im Europacup. «Er ist ein Mensch, mit dem ich mich nicht zwei Stunden unterhalten muss, damit er merkt, wie es mir geht. Er weiss es sofort.» Meiler entschied sich, die Vorbereitung abseits des Schweizer Teams zu absolvieren und schloss sich dem Austria-Team an. Sie verschweigt nicht, dass sie
mit dem damaligen Schweizer Trainer Harald Benselin nicht mehr an Fortschritte als Athletin glaubte. «Es war nichts Persönliches. Aber nach über fünf Jahren Zusammenarbeit merkte ich, dass ich nichts mehr Neues lernen konnte. Ich wusste zu 95 Prozent, welche Rückmeldungen kommen würden. Ich suchte neue Inputs, musste wieder ins kalte Wasser geworfen werden, und Harald konnte das nicht mehr bieten.»

Es sollte kein Happy End folgen. 2014/15 war für Meiler eine schwierige Saison mit wenigen Weltcuprennen wegen Schneemangels und einer Nichtselektion für die WM. Meiler empfand das als «Stein, der mir vom Trainer in den Weg gelegt wurde. Es wurden nicht alle Quotenplätze ausgeschöpft. Seine Begründung war für mich ein persönlicher Entscheid, der schwierig zu akzeptieren war.»

Die Reisen sind gesichert

Und so steht Simona Meiler vor einem Neuanfang. Der Nationaltrainer hat gewechselt, mit Mario Fuchs hat ein Österreicher das Sagen. «Ich habe jetzt jemanden, der mir Inputs geben kann und mich auf eine Art fordert, die ich vorher nicht kannte», sagt Meiler und blickt nach vorne: «Ich hoffe, Olympia so nochmals im Visier haben zu können.» Auch neu: Ihre Weltcupsaison 2015/16 finanziert sie mit Crowdfunding. Auf «ibelieveinyou.ch» sind jene 5000 Franken bereits zusammengekommen, die sie für die Reisen an die Rennen in Russland, Südkorea und den USA benötigt. Ein ungewöhnlicher Weg? Sie verneint: «Wenn ich sehe, wie viele ähnliche Projekte es dort gibt …» Zumindest die Ausgaben für den Sport seien gedeckt, jene für den Lebensunterhalt nicht, sagt Meiler zum Abschied nachdenklich. Sie müsse nach Hause, lernen fürs Studium: «Es macht mir immer mehr Spass!» Auf der Polyterrasse brennt mittlerweile die Sonne, als wäre es Sommer, ein Stimmengewirr von Studenten und den die Esswaren ihrer mobilen Imbissbuden anpreisenden Verkäufern. Einen Sitzplatz ergattern? Eine grosse Herausforderung.

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