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Rumantsch Grischun: Sprachlicher Mikrokosmos in Aufruhr

Die vor 30 Jahren kreierte Einheitssprache Rumantsch Grischun provoziert die kleinste Schweizer Sprachgruppe der Rätoromanen immer noch. 2011 sorgte die Schriftsprache in Graubünden für rote Köpfe und einen wichtigen politischen Entscheid.

Südostschweiz
05.01.12 - 14:50 Uhr

Chur. – Es gab Streitereien scheinbar ohne Ende. Die Schriftsprache Rumantsch Grischun trennte nicht nur gute Freunde und Nachbarn, sie riss sogar Gräben innerhalb von Familien auf. Das Bündner Kantonsparlament reagierte Anfang Dezember – nicht zuletzt, um die Gemüter zu beruhigen.

In einem vielbeachteten Beschluss entschied der Grosse Rat in Chur, Schulbücher für die Volksschule in den romanischen Gemeinden nicht mehr nur in Rumantsch Grischun zu drucken, sondern auch wieder in den fünf Idiomen. Das Parlament stiess seinen Entscheid von 2003 um, Schulbücher ausschliesslich in Rumantsch Grischun herauszugeben.

Sprachlicher Mikrokosmos

Die Situation im sprachlichen Mikrokosmos in Graubünden mit 35 000 Rätoromaninnen und Rätoromanen weist bisweilen babylonische Züge auf. Die Tageszeitung «La Quotidiana» ist Ausdruck dieser bunten Sprachenwelt. Sie publiziert in den fünf romanischen Idiomen sowie in Rumantsch Grischun. Und die Annoncen erscheinen in Deutsch.

Rumantsch Grischun soll in der rätoromanischen Sprachenvielfalt eine Brückenfunktion erfüllen: dem Romanischen mehr Präsenz in allen Bereichen des täglichen Lebens verschaffen, Identität stiften und die vierte Landessprache stärken. Die Idee, fünf Idiome unter eine Schriftsprache zu stellen, sei mit dem Parlamentsbeschluss ins Gegenteil verkehrt worden, monieren Kritiker. Gleichwohl hat der Entscheid die Situation entspannt. Es sei ruhig geworden, der Konflikt um Rumantsch Grischun habe sich extrem belastend ausgewirkt, sagt Regierungsrat Martin Jäger.

«Der gute Geist von Laax»

Rumantsch Grischun in der Schule sei immer ein heikles Thema gewesen, betont Andreas Gabriel vom Sprachen-Dachverband Lia Rumantscha. Von den über 30 Gemeinden, die sich für die Einheitssprache als Schulsprache entschieden, sind inzwischen mehr als ein halbes Dutzend zu den Idiomen zurückgekehrt.

Eine Ausnahme bildet Laax, wo sich die Gemeindeversammlung für den Beibehalt der Schriftsprache in der Schule aussprach. Die Journalistin Maria Cadruvi, die sich in der Impulsgruppe «pro rumantsch» für die Einheitssprache engagiert, hofft, dass sich «der gute Geist von Laax» in anderen romanischen Gemeinden manifestiert.

Kein Kurswechsel

Die Rückeroberung von Terrain in der Schule durch die Idiome bedeutet jedoch keinen Kurswechsel in der Sprachenpolitik des Kantons Graubünden und des Bundes. Der Bund verwendet Rumantsch Grischun schon seit 1986 als Amtssprache, der Kanton Graubünden seit 2001. Das werde so bleiben, sagt Regierungsrat Martin Jäger.

Rätoromaninnen und Rätoromanen werden laut Jäger in den nächsten 50 Jahren mit ihrem lokalen Idiom und Rumantsch Grischun konfrontiert. Der Kanton hat weder Geld noch Übersetzungskapazitäten, alle Schulbücher in den Idiomen herauszugeben. Zumindest passiv sollen Schülerinnen und Schüler mit Rumantsch Grischun vertraut werden.

Ähnlich wie das Hochdeutsche

Keinen Einfluss hat der Parlamentsbeschluss mit den Schulbüchern auf die Medien. Mariano Tschuor, Direktor von Radiotelevisiun Svizra rumantscha RTR, spricht von einer «klaren Strategie» seines Hauses. Die kleinste der vier SRG-Senderketten sendet in Rumantsch Grischun und in den Idiomen.

Rumantsch Grischun werde in den Nachrichten als gelesene Schriftsprache eingesetzt, ähnlich wie das Hochdeutsche in den Nachrichtensendungen von Radio DRS. RTR hat laut Tschuor mit dieser Aufteilung gute Erfahrungen gemacht, bei den Mitarbeitenden wie beim Publikum.

Rumantsch Grischun nicht aufzuhalten

Guido Jörg, Geschäftsleiter der rätoromanischen Nachrichtenagentur ANR, sagt, dass Rumantsch Grischun angewandt werde, wenn sich eine Publikation an die gesamte Rumantschia richte. Ansonsten gelte für die produzierten Texte: aus der Region für die Region im entsprechenden Idiom.

Trotz des Rückschlags in der Schule: Aufzuhalten wird Rumantsch Grischun kaum sein. In keinem Idiom dürfte inzwischen soviel publiziert werden wie in der einheitlichen Schriftsprache. Auch die digitale Welt bedient sich der Dachsprache. «Microsoft Office Rumantsch» gibt es nur in Rumantsch Grischun. (sda)

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