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INSIEME scheiterte an mangelnder Führung und Aufsicht

Für das Scheitern des Informatikprojekts INSIEME ist in erster Linie die Eidg. Steuerverwaltung und deren früherer Chef Urs Ursprung verantwortlich. Aber auch das Finanzdepartement und der Bundesrat tragen Verantwortung. Zu diesem Schluss kommt die parlamentarische Oberaufsicht.

Südostschweiz
21.11.14 - 16:00 Uhr

St. Gallen. – Das Informatikprojekt INSIEME der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) war 2001 lanciert worden. Im Herbst 2012 zog Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf die Notbremse und stoppte es. Ursprung musste wegen Verstössen gegen das Beschaffungsrecht den Hut nehmen. Die Kosten belaufen sich auf 116 Millionen Franken.

Wie es zum Debakel kommen konnte, hat eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Finanz- und Geschäftsprüfungskommissionen (FK und GPK) von National- und Ständerat untersucht. Am Freitag haben die Kommissionen die Ergebnisse vorgelegt.

Unerwartetes förderte die Untersuchung nicht zutage: INSIEME scheiterte an mangelnder Führung und Aufsicht. Die Hauptverantwortung trägt die Steuerverwaltung, die sich über Vorschriften und Vorgaben hinwegsetzte.

Merz mitverantwortlich

Das Finanzdepartement unter der Leitung der ehemaligen Bundesräte Kaspar Villiger und Hans-Rudolf Merz sowie von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf tragen eine Mitverantwortung. Das Departement nahm seine Aufsichts- und Führungsfunktion zu wenig wahr, laut dem Bericht insbesondere zwischen 2007 und 2010, also unter der Leitung von Merz. Widmer-Schlumpf übernahm das Departement im November 2010.

Dem Bundesrat wiederum kommt eine übergeordnete Verantwortung zu. Er verpasste es nach Ansicht der Parlamentskommissionen, klare Rahmenbedingungen zu schaffen und wirkungsvolle Vorgaben zu machen. Keine Schuld trifft die Finanzkontrolle, doch hat diese den Bundesrat und die parlamentarischen Oberaufsichtsorgane nicht immer angemessen unterstützt.

Schlüsselpositionen falsch besetzt

Im Detail kritisieren die Parlamentskommissionen insbesondere Personalentscheide. INSIEME sei geprägt gewesen von «fehlenden Kompetenzen bei den Projektbeteiligten», heisst es im Bericht. «Weder der Direktor der Steuerverwaltung noch die Departementsführung hätten zulassen dürfen, dass INSIEME während dreieinhalb Jahren von einem Gesamtprojektleiter geführt wurde, der offensichtlich seinen Aufgaben nicht gewachsen war.»

Die Untersuchung ergab ausserdem, dass viele Schlüsselpositionen mit externen Experten besetzt wurden. Dies habe die ESTV in eine Dauerabhängigkeit von externen Experten gebracht, was letztlich zu erheblichen Mehrkosten geführt habe.

Verträge freihändig vergeben

Weiter zeigte sich, dass die ESTV Dutzende von Verträgen knapp unter dem WTO-Schwellenwert freihändig vergeben hatte. Die FK und GPK verurteilen diese Praxis «aufs Schärfste» und fordern den Bundesrat auf, dies künftig zu unterbinden. Das beschlossene flächendeckende Vertragsmanagement und Beschaffungscontrolling gelte es nun rasch umzusetzen.

Die Administrativuntersuchung war 2012 zum Schluss gekommen, dass die ESTV Beschaffungen «systematisch und willentlich widerrechtlich» durchgeführt hatte. Gestützt auf die Ergebnisse erstattete das Finanzdepartement Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft; die Strafverfahren sind noch nicht abgeschlossen.

Informationspflicht verletzt

Die Steuerverwaltung nahm auch ihre Informationspflicht gegenüber dem Departement und den Oberaufsichtsorganen ungenügend wahr. Laut dem Bericht «bildeten die Unterlagen teilweise nicht die wahren Gegebenheiten ab».

Die ESTV habe INSIEME durch Beschönigungen und Verbesserungsversprechen in ein zu gutes Licht gerückt. Die Empfänger der Informationen hätten allerdings auch nicht nachgefragt und die Informationen nicht auf ihre Plausibilität hin überprüft.

Erste Massnahmen ergriffen

Dass der Bundesrat seit dem Abbruch von INSIEME erste Massnahmen gegen Probleme mit Beschaffungen in der Bundesverwaltung ergriffen hat, nehmen die Parlamentskommissionen zur Kenntnis. Aus ihrer Sicht genügt dies aber noch nicht.

Sie haben 22 Empfehlungen an den Bundesrat formuliert sowie eine Motion und zwei Postulate beschlossen. Unter anderem fordern sie, dass bei Wechseln in der Departementsführung eine Stabübergabe erfolgt, welche die Kontinuität der Geschäfte sicherstellt. Der Wissenstransfer sei durch eine lückenlose Dokumentation der zentralen Geschäfte zu gewährleisten. Bis Ende Februar erwarten die Kommissionen eine Stellungnahme zu den Empfehlungen.

Kündigung rechtens

Nach Bekanntwerden des Skandals war der Arbeitsvertrag mit einem leitenden Angestellten des von INSIEME aufgelöst worden. Wie das Bundesverwaltungsgericht entschied, war diese Kündigung korrekt. Gegen den ehemaligen Mitarbeiter der ESTV läuft derzeit eine Strafuntersuchung wegen ungetreuer Amtsführung.

Das Arbeitsverhältnis mit dem Mitarbeiter wurde im Januar per Ende Mai dieses Jahres aufgelöst. Der Mann erhob Beschwerde und forderte die Aufhebung der Kündigung beziehungsweise der entsprechenden Verfügung.

Das ehemalige Kadermitglied bemängelt unter anderem, für die Begründung der Kündigung seien Vorwürfe und Erkenntnisse aus der laufenden Strafuntersuchung beigezogen worden. Das sei nicht zulässig, weil dieses Verfahren noch nicht abgeschlossen sei.

Sachliche Gründe

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt in seinen Ausführungen, dass eine Verdachtskündigung vor dem Erlass eines rechtskräftigen Strafurteils nicht zulässig sei - sofern die Entlassung ausschliesslich mit der Straftat begründet wird.

Allerdings heisst das nicht, dass ein Unternehmen in einem solchen Fall einem Mitarbeiter grundsätzlich nicht kündigen darf. So kann gemäss Bundesverwaltungsgericht auch ein sachlicher Grund vorliegen.

Als Beispiel nennt es die Gefahr, dass das geordnete Funktionieren der Verwaltung verunmöglicht wird oder sich eine allfällige Medienkampagne negativ auf den Ruf und das Ansehen der Verwaltung auswirken.

Vertrauen verloren

Die im Juni 2012 abgeschlossene Administrativuntersuchung bezüglich der Beschaffungsprozesse für das Informatikprojekt INSIEME zeigte unter anderem auf, dass das ehemalige Kadermitglied persönliche Beziehungen zu zwei Firmen unterhielt, denen Aufträge erteilt worden waren.

Aus diesem Grund hatte die Vorgesetzte des Mannes das Vertrauen in ihn verloren. Sie konnte Voreingenommenheit und Interessenkonflikte nicht mehr ausschliessen. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil schreibt, bestehen besonders bei leitenden Angestellten hohe Ansprüche bezüglich Loyalität, Treuepflicht und Sorgfalt. (Urteil A-969/2014 vom 11.11.2014) (sda)

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