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«Ihr immer mit Euren Taliban, Karatschi hat andere Probleme»

Vier Parteien mit eigentlich vernünftigen Programmen buhlen in Karatschi um Einfluss und treiben Pakistans grösste Stadt tiefer und tiefer in den Sumpf der Gewalt. Zu Besuch bei Menschen, deren kleinstes Problem die Taliban sind.

Südostschweiz
15.01.14 - 08:00 Uhr

Von Gilbert Kolonko*

Karatschi. – Auf der Spitze des kolonialzeitlichen Uhrenturms weht eine rote Fahne – als Zeichen an alle Rivalen, dass am Empress Market die ANP das Sagen hat. Drum herum kreisen Dutzende Greifvögel. In der Umgebung liegen in dünne Decken gehüllt ein paar der offensichtlichen Verlierer unter den 16 Millionen Bewohnern der Stadt. Während ich auf einen der bunt verzierten Rumpelbusse Karatschis springe, ruft mir eine Stimme die Busnummer G-19 hinterher. Ich winke, und ein halbes Dutzend morgendlicher Teetrinker winkt lächelnd zurück.

Zehn Minuten später sind die Fahnen rot-grün-weiss gestreift. Der paschtunische Ticketverkäufer des Busses weiss auch so, dass ab hier ­wieder die MQM das Sagen hat. Laut Wikileaks hat sie 25 000 Mann unter Waffen und ist die stärkste «Gang» Karatschis. Alles, was der Ticketverkäufer auf meine Frage nach der ANP zu sagen hat, ist – mit verzogenem Mundwinkel – das Wort «Räuber».

Jede Partei eine «Gang»

Noch eine halbe Stunde weiter nördlich lösen auf der linken Seite langgestreckte Sandsteinberge den Grossstadtdschungel ab. Als sich mittendrin ein See zeigt, springe ich ab. Direkt neben der Hauptstrasse ein Sufi-Schrein mit riesigen Krokodilen im Gartentümpel. Vom Friedhof neben dem Manghopir-Schrein aus ist inmitten der Sandsteinberge die Siedlung Sultanabad zu sehen. Der Siegeszug der ANP der letzten Jahre scheint hier ein Ende genommen zu haben. Laut Recherchen pakistanischer Journalisten – unterstrichen durch Dutzende Morde an ANP-Mitgliedern – sind dort und in anderen Paschtunen-Siedlungen die verschiedenen Gruppen der pakistanischen Taliban auf dem Vormarsch. Dass im Sufi-Schrein Sunniten und Schiiten nach Ansicht der Taliban Götzen anbeten, ist nur ein Beispiel für das Durcheinander in Karatschi.

Auf den Rückweg mache ich mich zu Fuss, und 40 Gehminuten weiter, wo die Häuserzeilen in der Nusrat-Bhutto-Kolonie wieder geschlossen stehen, wehen erneut die Fahnen der MQM. Kurz darauf säumen von Mauern umgebene Ein- und Zweifamilienhäuser eine weite Strasse. Unterstützt durch den warmen, salzigen Wind kommt die Vorstellung auf, in einer ganz normalen Stadt am Arabischen Meer zu sein, doch dann fallen mir Gespräche mit einem Dutzend Touristen aus Karatschi vor zwei Monaten in den Bergen Hunzas ein. Jeder von ihnen wurde allein im letzten Jahr mindestens einmal überfallen, einer sogar fünfmal. Dann treffe ich auf den People’s-Chowrangi-Platz, auf dessen begrünter Mittelinsel drei Fahnen wehen: eine der MQM, eine schwarze der Schiiten und eine kleine der Jamaat-e-Islami, was heisst, dass in dieser Gegend noch nicht entschieden ist, wer die Oberhand gewonnen hat.

In Lyari «zu viel ­Bummbumm»

Am nächsten Morgen laufe ich durch den Stadtteil Lyari Richtung Lea Market. Zu beiden Seiten der Strasse zwei- bis dreistöckige Kolonialgebäude, bröckelnd und verrusst. Doch die Menschen hier haben andere Probleme als Denkmalschutz: Lyari ist in der Hand von kriminellen Banden, bei deren Auseinandersetzungen auch mal der Granatenwerfer zum Einsatz kommt. Hinter dem Markt beginnt bald ein Labyrinth aus langen, engen Gassen. Die verrussten Betonklötze zu beiden Seiten geben den überwiegend verwaisten Gassen etwas Geisterhaftes.

An einer Kreuzung dann wenigstens ein Stück Normalität. Ein Schausteller hat seine fahrbare Rutsche aufgestellt. Drei kleine Mädchen klettern quirlig hinauf und rutschen die eineinhalb Meter jubelnd hinunter. Die zwei Alten, die dem Treiben mit apathischen Blicken zuschauen, stören den heiteren Eindruck.

Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Gewalt verdienen, trifft man um diese frühe Zeit kaum. Erst als ich aus dem Labyrinth auf eine belebte Kreuzung hinaustrete, sehe ich zwei von ihnen. Den Dicken mit aufgequollenem Gesicht und toten Augen, frage ich nach dem Lyari-Fluss, worauf sein ausgezehrter, langer Kumpan mehrmals laut und hektisch fragt, was ich wolle. Ein heftiges Zungenschnalzen und ein finsterer Blick des Dicken lassen den Ausgezehrten sofort verstummen; dann zeigt der Dicke mir mit einer Handbewegung die Richtung.

An der nächsten Kreuzung steht ein gepanzertes Fahrzeug der Rangers; ein Behelmter im Ausguck hinter dem Maschinengewehr. Die etwa 30 000 Polizisten Karatschis – in der Regel überarbeitet, unterbezahlt, schlecht ausgebildet und allzu oft als Privatwächter für einflussreiche Einzelpersonen benutzt – sind schon lange überfordert. So ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Bürger Karatschis nach dem Einsatz der Armee rufen. An einem Teestand komme ich ins Gespräch mit einem ehemaligen Seemann. Ich frage den zahnlosen 50-Jährigen, der aussieht wie 80, warum die Hauptstrasse so leer ist. Mit der rechten Hand ahmt er eine Pistole nach, hält sie sich ans Herz und sagt ruhig: «Zu viel Bummbumm.»

Alle sozial, alle fortschrittlich

Vor uns auf der Kreuzung die üblichen Fahnen, dazu an einer Hauswand die Buchstaben PPP – die vierte «Gang» im Bunde. Auch bei ihr handelt es sich um eine politische Partei. Bis vor einem halben Jahr besass die  Pakistan People’s Party sogar die Mehrheit im pakistanischen Parlament. Die PPP hat den Anspruch, sozial und anti-fundamentalistisch zu sein und für die Schwachen im Lande einzustehen. Bei der MQM, die die ­urdusprachigen Mohajirs repräsentieren will, die 1947 aus Indien ins neugegründete Pakistan immigrierten, verhält es sich ähnlich. Bildung, Fortschritt und eine Annäherung an Indien hat sie sich auf die Fahnen geschrieben. Die ANP, die behauptet, den zugezogenen paschtunischen Bevölkerungsteil zu repräsentieren, hält sich zugute, sozial und gegen die Taliban ausgerichtet zu sein. Auch die religiöse Partei, Jamaat-e-Islami, verkündet, die Bildung fördern und die marode Wirtschaft stärken zu wollen.

Wie kommt es dann aber, dass Karatschi in einem Sumpf von Gewalt versinkt? Allein im Jahr 2012 gab es mehr als 2000 politisch oder ethnisch motivierte Morde. Letztes Jahr wurden 138 Polizisten im Dienst getötet. Laut einem Bericht von Human Rights Pakistan werden in Karatschi pro Tag 20 000 Straftaten verübt. Der Hafen der Stadt ist ein Umschlagplatz für Waffen und Drogen. Landraub, Erpressungen und Schutzgeld sind schon so normal wie anderswo die Einkommensteuer.

Kontrollierte ­Kriminalität

Am Abend sitze ich in einem Strassenrestaurant am Sadar-Basar. Eine bunte Blechlawine schiebt sich dröhnend über die angrenzende Strasse. Mir gegenüber sitzt ein Enddreissiger, der hier aufgewachsen ist und auch Lyari gut kennt. «Was passiert hier in Karatschi, was genau in Lyari», frage ich ihn. «Lyari ist der Ort, an dem in Karatschi alles begann. Der Hafen ist um die Ecke, es ist eine Handelsgegend. Dort ist das Geld, und so sind die beiden grossen Spieler Karatschis hier: Die PPP, die in Karatschi fast nur von den Beluchis gewählt wird, aber in der umliegenden Provinz Sindh die feudalen Grossgrundbesitzer hinter sich weiss, und die MQM. Sie hat etwa halb Karatschi unter Kontrolle, weil sie die am besten organisierte Partei ist.»

Darauf will ich wissen, wie dann in Lyari bewaffnete Banden ihr Unwesen treiben können. «Jeder in Karatschi weiss, dass die Banden von der PPP und der MQM kontrolliert werden. Wenn die Bandenchefs ihre eigenen Wege gehen wollen, werden sie 'ausgetauscht'. Mit dem Geld aus Lyari ­finanziert vor allen die MQM ihr riesiges Netz aus kleinen Büros.» «Und warum war Karatschi unter der Regierung von Pervez Musharraf so viel sicherer?» (Seit 2006 hat sich die Anzahl der Auftragsmorde verzehnfacht.) «Weil Musharraf wusste, dass er nur Ruhe in Karatschi hat, wenn er hier der MQM die Führungsrolle überlässt. Doch 2007 kam die PPP in Islamabad und in Sindh an die Macht.»

«Das hier ist nicht Wasiristan»

«Also die PPP sind die Bösen und die MQM die Guten?», frage ich etwas überspitzt. «Auch wenn ich Sympathien für die MQM habe, weil sie eine Menge heller Köpfe in ihren Reihen hat, die wirklich versuchen, in Karatschi etwas Positives zu bewegen: Sie waren es, die mit dem bewaffneten Kampf in Karatschi begonnen haben, aus berechtigter Angst, von den anderen ethnischen Gruppen vertrieben zu werden. Karatschi ist Mittelalter und 21. Jahrhundert in einem.» «Und die pakistanischen Taliban?», frage ich, worauf mein Gegenüber kurz die Augen verdreht: «Ihr immer mit Euren Taliban, Karatschi hat andere Probleme.

Ja, die verschiedenen Gruppen der pakistanische Taliban sind ebenfalls in Karatschi; aber nicht um ihre Ideologie zu verbreiten, sondern um Geld zu verdienen. Sie haben es geschafft, am Rand der Stadt einige Gegenden von der ANP zu übernehmen. Jetzt kassieren sie dort Schutzgeld. Ich kenne eine Menge Paschtunen, und keiner von ihnen hat Sympathien für die Taliban, aber im Moment sind sie einfach die brutalere Gang. Weiter werden sie aber nicht nach Karatschi vorstossen. Das hier sind nicht die Berge Wasiristans. Die MQM hat jahrzehntelange Erfahrung im Grossstadtkrieg.»

Und immer diese Herzlichkeit

Am nächsten Morgen sitze ich an einem Teestand, das gleiche Dröhnen, dazu kommt noch jede Minute ein Bettler an den Tisch. «Jeden Tag strömen mehr Menschen vom Land nach Karatschi und vergrössern das Chaos hier», sagt ein 40-Jähriger, der in beinahe allen Gesellschaftsschichten der Stadt zu Hause ist, und so frage ich ihn, ob er denn eine Lösung wüsste, um das Chaos zu beenden. «Die Lösung ist in der Theorie so einfach. In Karatschi leben 500 verschiedene Religionsgemeinschaften und Ethnien zusammen und haben verstanden, dass es nur gemeinsam geht. Die politischen Parteien müssen endlich verstehen, dass es nicht um ihre persönliche Macht geht. Solange sie nicht aufhören, die verschiedenen Volksgruppen gegeneinander auszuspielen, wird sich nichts ändern.»

Als ich mich von Karatschi verabschiede, blicke ich wie meistens noch einmal mit einem Kopfschütteln zurück. Fast jeder ausländische Besucher Pakistans, den ich gesprochenen habe, ist von der Herzlichkeit und Freundlichkeit der Menschen des Landes angetan; von «Macken» wie «Yes, yes Sir, one minute» oder «tomorrow, tomorrow» abgesehen. Doch hier inmitten des Dröhnens von Karatschi, wo die unzähligen Bettler selten leer ausgehen, wirken diese Menschen schon wie Engel. Engel, die in der Hölle leben.

* Der Berliner Reiseautor Gilbert Kolonko ist seit 13 Jahren regelmässig in Indien, Nepal und Pakistan unterwegs. Der 41-Jährige hat Bücher über den Bürgerkrieg in Nepal und über Pakistan geschrieben. Das neueste heisst «Pakistan: Opfer und Täter».

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