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«Frau Merkel wird sich nicht mehr lange halten können»

CDU/CSU und Grüne sollten in Berlin vorübergehend eine Minderheitsregierung bilden, sagt Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele. So würden das Parlament und die Demokratie gestärkt.

Südostschweiz
21.11.17 - 04:30 Uhr
Politik
Hans-CHristian Ströbele weint "Jamaika" keine Träne nach.
Hans-CHristian Ströbele weint "Jamaika" keine Träne nach.
KEYSTONE

mit Hans-Christian Ströbele sprach Christoph Reichmuth

Hans-Christian Ströbele war bis Sommer dieses Jahres Bundestagsabgeordneter der Grünen und viele Jahre stellvertretender Vorsitzender seiner Bundestagsfraktion. Der 78-jährige Rechtsanwalt ist überzeugt, dass Deutschland von einer Minderheitsregierung profitieren würde. Weil eine solche Regierung gezwungen wäre, durch offene Überzeugungsarbeit im Bundestag Mehrheiten in Sachfragen zu suchen.

Herr Ströbele, das Scheitern der «Jamaika»-Sondierung ist ein politisches Erdbeben. Sind Sie erschrocken?

Nein. Ich vermute, dass der Ausstieg von der FDP schon länger geplant war. Das Scheitern bedauere ich nicht.

Sie glauben, die FDP will die Ära Merkel damit beenden?

Ich denke eher, dass die FDP im Laufe der Sondierungen für sich entschieden hat, dass sie in der Opposition besser aufgestellt ist als in einem solch problematischen Bündnis. Ich bin übrigens auch der Meinung, dass bei «Jamaika» etwas zusammengewachsen wäre, was nicht zusammengehört. Auch aus Sicht der Grünen.

Wie weiter?

Ich bin für eine Minderheitsregierung. Sie bietet die Möglichkeit, die Bedeutung des Parlaments und der einzelnen Bundestagsabgeordneten zu stärken – und damit auch die Demokratie. Es ist grundsätzlich gut für die Demokratie, wenn sich eine Regierung im Parlament Mehrheiten durch Überzeugungsarbeit suchen muss.

Also eine Minderheitsregierung als Abbild des Wählerwillens? Merkel bliebe – zumindest vorderhand – Kanzlerin, die Demokratie würde gestärkt?

Genau. Die Aussicht auf einen lebendigen Diskurs und das Ringen um Mehrheiten und Überzeugungen halte ich für sehr erfrischend.

Das Parlament würde gestärkt, die Abgeordneten ebenfalls. Das trifft auch auf die Fraktion der AfD zu. Das ist kaum in Ihrem Sinne.

Das muss keine Stärkung der AfD bedeuten. Beispiel Kriegseinsätze: Die Union holt sich ihre Mehrheiten in dieser Frage bei SPD und FDP. In Fragen der Sozial- oder Umweltpolitik kommt die Regierung dann auf die Grünen zu. Ohnehin wäre es der richtige Weg, der AfD zu begegnen, in dem wir eine transparente, ehrliche Politik machen. Der Frust vieler Wähler fusst ja auch auf der Annahme, dass die herrschenden Parteien nicht mehr in der Lage sind, die Probleme der Zeit zu lösen – weder in Deutschland noch in Europa. In einem lebendigen Parlamentsbetrieb könnte man diese These durch ehrliche, erfolgreiche Politik widerlegen. Bei Neuwahlen in ein oder zwei Jahren werden dann jene Parteien von den Wählern belohnt, die am ehrlichsten und am besten Politik betrieben haben.

Allerdings wäre eine solche Regierung instabil.

Nicht unbedingt. Die «Jamaika»-Sondierungen haben ja gezeigt, dass zwischen den vier Parteien in etlichen Punkten auch Konsens herrscht. Also ist die Regierung dank dieser Mehrheit schon einmal handlungsfähig. In strittigen Punkten wird dann um Mehrheiten gerungen. Ich sage nicht, dass eine Minderheitsregierung ideal wäre – aber zumindest vorübergehend kann sie Politik für die Wähler transparenter machen und zeigen, dass sie ihre Anliegen ernst nimmt.

Wenn ich Sie richtig interpretiere, wünschen Sie sich ein Bündnis aus Union und Grünen?

Wenn sich zwischen Union und Grünen ein Minimalkonsens finden lässt, warum nicht.

Die SPD weigert sich, einer Grossen Koalition den Weg zu bereiten, nachdem die Wähler diese Koalition deutlich abgewählt haben. Ist das nicht nachvollziehbar?

Die Reaktion der SPD unmittelbar nach den Wahlen war nachvollziehbar. Inzwischen verfolgt die SPD aber offenkundig vor allem Partei-Interessen. Sie verweigert sich nicht in erster Linie wegen des Wählerwillens einer Grossen Koalition, sondern weil sie hofft, in der Opposition an Profil hinzuzugewinnen und stärker zu werden. Die SPD stellt ihre eigenen Interessen über die Interessen des Landes.

Zum Szenario Neuwahlen. Würden diese das rasche Ende der Ära Merkel bedeuten?

Das Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel wurde bereits durch das Ergebnis der Bundestagswahlen eingeläutet. Jetzt kann Merkels politisches Ende in der Tat sehr rasch kommen. Frau Merkel wird sich meiner Meinung nach nicht mehr lange an der Regierungsspitze halten können.

Ihre Macht, auch parteiintern, scheint erodiert. Ist das Scheitern der Sondierungen auch ein Zeichen von Merkels Machtverlustes?

Ihre Art, mit Problemen umzugehen, ist deutlich an Grenzen gestossen. Sie hat nicht mehr jene Überzeugungskraft, die sie einmal hatte. Sie hat auch den Nimbus der starken Frau in der Union verloren. Merkel steht auch in der Union nicht mehr dafür, der Partei automatisch die Stimmen einzubringen, die für die Übernahme von Regierungsverantwortung reichen.

Wären bei Neuwahlen weitere Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse zu befürchten?

Ich gehe davon, dass sich die Kräfteverhältnisse ungefähr in dem Bereich halten würden, den wir jetzt haben.

Alle dreschen auf die FDP ein, welche die Sondierung platzen liess. Trifft auch die Grünen eine Schuld am Scheitern?

Nein. Ich bin der Auffassung, dass die Grünen in den Sondierungen schon zu weit gegangen sind.

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