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Sommaruga: «Die SVP betreibt Etikettenschwindel»

Justizministerin Simonetta Sommaruga wirbt für ein Nein am 28. Februar – und wirft der SVP vor, mit falschen Behauptungen zu operieren.

Südostschweiz
29.01.16 - 21:06 Uhr
Politik

Mit  Simonetta Sommaruga sprachen Dennis Bühler und Jonas Schmid

Am vergangenen Wochenende noch war sie so stark erkältet, dass sie auf eine geplante Reise nach Amsterdam verzichten musste. Bei unserem Besuch am Donnerstagnachmittag aber wirkt Simonetta Sommaruga wieder fit – und angriffig. «Unmissverständliche Worte sind nötig», sagt die 55-jährige Sozialdemokratin, die seit gut fünf Jahren Justizministerin ist.

Frau Sommaruga, bei einem Interview vor zwölf Jahren antworteten Sie – damals noch als Berner Ständerätin – auf die Frage, was Politik könne, Politik sei wie Kammermusik. «Jeder muss seine ganzen Fähigkeiten einbringen, am Schluss aber hört man den Zusammenklang.» Mit ihrer Durchsetzungsinitiative hält sich die SVP nun nicht an die Dirigentin. Wie wütend sind Sie?
Simonetta Sommaruga: Die SVP muss sich an niemanden halten, auch nicht an die Justizministerin. Aber auch sie sollte bedenken, wie stark sie Rechtssicherheit und Stabilität unseres Landes gefährdet, wenn sie solche Vorlagen lanciert. Die Durchsetzungsinitiative ist unmenschlich, sie bricht mit den Grundregeln der direkten Demokratie und ist eine Attacke auf unseren Rechtsstaat.

Sie wählen so deutliche Worte wie nie zuvor in einem Abstimmungskampf. Wäre ein Ja am 28. Februar auch eine persönliche Niederlage für Sie?
Unmissverständliche Worte sind nötig. Die Durchsetzungsinitiative macht alle Ausländer in der Schweiz – zwei Millionen Menschen – zu Bürgern zweiter Klasse. Auch Secondos, also Menschen, die hier geboren und zur Schule gegangen sind, die hier ihre Steuern zahlen und nie in einem anderen Land gewohnt haben.

Nochmals: Wie stark träfe Sie eine Annahme der Initiative persönlich? Würden Sie gar zweifeln, ob Sie dieser Bevölkerung weiterhin Justizministerin sein möchten?
Nein. Denn bei einem Ja verlören nicht nur ich und der Bundesrat, sondern auch eine Mehrheit der Parteien und Parlamentarier. 40 von 46 Ständeräten – alle vom Volk gewählt – sind gegen diese Initiative! Doch die Tatsache, dass Sie mir diese Frage stellen, zeigt, dass es bei dieser Initiative nur vordergründig um kriminelle Ausländer geht – in Tatsache aber um weit mehr. Meine Bundesratskollegin Doris Leuthard würden Sie ja kaum fragen, ob sie zurücktreten werde, falls die Stimmbevölkerung den Bau einer zweiten Gotthardröhre ablehnen sollte.

Worum geht es denn?
Diese Initiative wirft eine der grundlegendsten Spielregeln unseres Rechtsstaates über Bord: die Gewaltenteilung. Mit der Durchsetzungsinitiative übernimmt die Bevölkerung die Rolle des Parlaments, indem sie eine Vielzahl direkt anwendbarer Artikel in die Verfassung schreibt und so die Gesetzgebung überspringt. Und sie schaltet die Richter aus, indem sie ihnen verbietet, bei einer Landesverweisung den Einzelfall zu prüfen.

Die SVP begründet die Durchsetzungsinitiative damit, dass Bundesrat und Parlament die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative mit einer Härtefallklausel verwässert hätten. Lügt die SVP?
Die SVP verschweigt, dass der Rechtsstaat ohne die vom Parlament zu Recht ins Gesetz aufgenommene Härtefallklausel ins Wanken gerät. Es ist eines Rechtsstaates unwürdig, wenn seine Richter keinerlei Ermessen mehr haben und nur noch wie Roboter Ausschaffungsentscheide abnicken dürfen.

Genügt die Ausschaffungsinitiative denn, um kriminelle Ausländer auszuweisen?
Bereits die Ausschaffungsinitiative ging sehr weit. Und sie wurde vom Parlament rigoros umgesetzt. Kriminelle Ausländer werden bereits mit dieser Gesetzgebung konsequent ausgeschafft. Ausnahmen können Richter einzig machen, wenn kein Risiko für die öffentliche Sicherheit besteht.

Am 28. Februar soll doch bloss durchgesetzt werden, was das Stimmvolk im Herbst 2010 mit der Annahme der Ausschaffungsinitiative beschlossen hat. So jedenfalls verspricht es der Titel der Abstimmung.
Die SVP betreibt Etikettenschwindel: Sie nennt ihr Vorhaben Durchsetzungsinitiative, es ist aber ganz klar eine Verschärfungsinitiative. Die SVP behauptet, das Parlament habe seine Arbeit nicht gemacht. Das ist falsch. Das Gesetz zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative ist bereits verabschiedet. Wir haben übrigens schon heute eine der europaweit härtesten Ausschaffungsgesetzgebungen.

Sie übertreiben. Auch wenn Sie davor warnen, „Bürger zweiter Klasse“ zu schaffen: Anständige Ausländer haben nichts zu befürchten. Wer nicht gegen Gesetze verstösst, kann auch nicht ausgeschafft werden.
Nicht ich übertreibe, die Initiative übertreibt es. Ein Beispiel: Nach einem feuchtfröhlichen Fest nach einer Lehrabschlussprüfung gehen irgendwann die Getränke aus, und eine Gruppe junger Erwachsener, Schweizer und Secondos gemischt, bricht in ein Gartenhäuschen ein und entwendet ein paar Flaschen Wein. Zwar werden alle bestraft, Schweizer und Ausländer. Letztere aber werden zusätzlich ausgeschafft. Automatisch, ohne dass ein Richter die Umstände des Falls berücksichtigen darf.

Um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Wegen dieser Tat wird doch niemand Strafanzeige erstatten – und also auch niemand ausgeschafft.
Würden Sie keine Anzeige erstatten, wenn bei Ihnen eingebrochen wird? Entscheidend ist, dass den Richtern die Hände gebunden sind: Verurteilen sie einen Ausländer wegen einer solchen Tat, müssen sie ihn auch ausschaffen – ohne jede Ausnahme. Auch wenn die Schadenssumme klein ist, auch wenn es mildernde Umstände gibt.

Die Initiativgegner – Sie inklusive – argumentieren stets mit Bagatelldelikten. Wo ziehen Sie denn die Grenze: Gibt es Taten, die Ausschaffungen rechtfertigen?
Selbstverständlich. Das Gesetz zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative zieht die Grenze mit Bedacht: Es umfasst Mord, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung und weitere gravierende Taten. Nicht aber Bagatelldelikte wie in meinem Beispiel. Die Durchsetzungsinitiative unterscheidet nicht zwischen Mord und Einbruchsdiebstahl, nicht zwischen Vergewaltigung und Arbeiten ohne Bewilligung. Das ist absurd.

In der Schweiz macht sich bisher nur die SVP für die kompromisslose Ausschaffung von kriminellen Ausländern stark. In Deutschland hingegen haben sich diese Forderung seit den Übergriffen von Köln in der Silvesternacht selbst die Sozialdemokraten auf die Fahne geschrieben. Sind wir in der Schweiz blauäugig, weil hierzulande noch nie etwas ähnlich Gravierendes geschehen ist?
Sie vermischen Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Bei Übergriffen, wie sie in Köln geschehen sind, darf es bei uns null Toleranz geben. Für solche Taten gibt es keinerlei kulturelle Rechtfertigungen. Respekt für Frauen ist in unserer Gesellschaft zentral und auch mir persönlich ein grosses Anliegen.

Aber?
Die Durchsetzungsinitiative trifft eben auch die gut Integrierten. Menschen, die hier geboren und mit uns in die Schule gegangen sind, aber keinen roten Pass besitzen. Sie müssen das Land selbst wegen Bagatellfällen für mindestens fünf Jahre verlassen, auch wenn sie hier eine Familie zu ernähren haben. Um sie geht es am 28. Februar.

Vielleicht – wenn man sie denn ausschaffen könnte. Zahlreiche Staaten, darunter beispielsweise Algerien und Marokko, weigern sich, ihre aus der Schweiz ausgewiesenen Bürger zurückzunehmen.
Ausschaffungen können mehrheitlich durchgeführt werden. Es gibt allerdings zwei Ausnahmen. Zum einen das zwingende Völkerrecht: Wenn eine Person in ihrem Heimatland an Leib und Leben bedroht ist. Zum anderen: Wenn sich der Heimatstaat weigert, eine Person einreisen zu lassen.

Die SVP sagt: Mit solchen Ländern muss der Bundesrat halt hart verhanden.
Auch ein früherer SVP-Justizminister hat es nicht geschafft, mit diesen Staaten ein Abkommen auszuhandeln. Und auch unseren europäischen Nachbarn ist dies nicht gelungen. Immerhin war die Schweiz eines der ersten Länder, das 2012 ein Abkommen mit Tunesien zum Abschluss brachte. Und selbstverständlich unternehmen wir alles, um auch mit anderen Staaten so weit zu kommen.

Das sieht die SVP anders. Solch unkooperativen Staaten gegenüber müsse man mehr Härte zeigen, fordert sie – und per sofort jede Entwicklungshilfe einstellen.
Wer so argumentiert, kennt gewisse Fakten nicht. Algerien beispielsweise ist ein wohlhabendes Land, das man nicht mit der Androhung unter Druck setzen kann, ihm Entwicklungshilfe zu entziehen.

Die Durchsetzungsinitiative…
…vermag daran überhaupt nichts zu ändern. Vielmehr schürt sie falsche Hoffnungen, indem sie vorgaukelt, auf einmal könnten alle kriminellen Ausländer ausgeschafft werden. Die Durchsetzungsinitiative verschärft dieses Problem nur.

Das müssen Sie erklären.
Mit der Durchsetzungsinitiative würden gegen mehr Personen Ausschaffungsentscheide gefällt. Viele von ihnen aber werden aus den genannten Gründen hier bleiben müssen. Sie erhalten nach abgesessener Haftstrafe nur noch Nothilfe und dürfen nicht mehr arbeiten. Wenn mehr Leute ins soziale Abseits gedrängt werden, erhöht sich das Risiko, dass sie erneut kriminell werden.

Dennoch: Viele Menschen finden, es werde zu wenig für ihre Sicherheit unternommen. Mit der Durchsetzungsinitiative wollen sie vor allem auch ein Zeichen setzen.
Dafür ist die Durchsetzungsinitiative denkbar ungeeignet. Es steht viel zu viel auf dem Spiel.

Kann man nicht darauf vertrauen, dass die Suppe dann schon nicht so heiss gegessen wird, wie sie nun im Abstimmungskampf gekocht wird? Immerhin bleibt das Verhältnismässigkeitsprinzip ja unabhängig vom Ausgang der Abstimmung am 28. Februar in der Verfassung verankert, weshalb völlig offen ist, wie strikt die Richter die Durchsetzungsinitiative umsetzen würden.
Das stimmt nicht. Bitte lesen Sie den Initiativtext genau. Darin steht, ihre Bestimmungen seien direkt anwendbar. Die SVP will Parlament und Richter ausschalten. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, darauf zu vertrauen, dass dann schon noch jemand zum Rechten schaut... Und ehrlich gesagt, das wird langsam absurd: zu etwas ja sagen, und dann hoffen, dass es nicht eintritt?!

Die gesamte Schweizer Elite teilt Ihre Empörung und wehrt sich vehement gegen die Durchsetzungsinitiative. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit nicht eben klein, dass die SVP obsiegt. Hat die Schweizer Elite ein Glaubwürdigkeitsproblem? 
Von welcher Elite sprechen Sie? Gehören die 40 Ständeräte, alle vom Volk gewählt, die gegen diese Initiative sind, auch zur Elite? Und auch wenn sich Professoren, Künstler und Unternehmer gegen die Durchsetzungsinitiative ins Zeug legen: Die SVP ist selbst ebenfalls Teil der Elite. Wenn man die finanziellen Kräfteverhältnisse betrachtet, ist die SVP sogar die mit Abstand elitärste Partei unseres Landes.

Inwiefern würde ein Ja zur Durchsetzungsinitiative die Beziehungen zur Europäischen Union belasten?
Die Schweiz wird dank ihrer humanitären Tradition weltweit geachtet, sie gilt als Land, das sich für die Einhaltung der Menschenrechte stark macht. Dieser Ruf würde bei einer Annahme der Durchsetzungsinitiative erheblich Schaden nehmen. Wer weiss, wie belastet unsere Beziehungen zur EU seit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vor zwei Jahren ohnehin schon sind und wie schwierig sich die Verhandlungen gestalten, wird nicht noch mehr Öl ins Feuer giessen wollen. Wird die Durchsetzungsinitiative angenommen, werden wir zum zweiten Mal innert zwei Jahren vertragsbrüchig. Die EU wird dies nicht einfach so schlucken. Die folgenden Verwerfungen sind Gift für unsere ohnehin bereits gebeutelte Wirtschaft – Stichwort Frankenstärke.

Ein Ja zur Durchsetzungsinitiative würde das politische Machtgefüge auf den Kopf stellen: Die SVP könnte danach bei jedem Gesetzgebungsprozess mit einer Durchsetzungsinitiative drohen und dem Parlament so jeglichen Spielraum rauben.
Es ist in der Tat denkbar, dass die SVP bei einem Ja auch in Zukunft versuchen würde, das Parlament in Geiselhaft zu nehmen.

Befürchten Sie, dass sie immer noch radikalere Anliegen lancieren wird?
Dass die SVP nicht davor zurückschreckt, immer noch radikalere Vorschläge zu lancieren, wissen wir inzwischen. Noch bevor ein Gesetz in Kraft getreten ist, droht sie mit der nächsten Verschärfung. Ich beobachte diese Entwicklung mit Sorge. Ich hoffe aber, die Stimmbürger haben bemerkt, dass man dieses Mal zu weit gegangen ist. Nicht umsonst sprach FDP-Präsident Müller von einem «Anschlag auf die Schweiz».

Im zu Beginn des Gesprächs erwähnten Interview sagten Sie 2004, manchmal hole Sie der Gedanken ein, dass womöglich alles sinnlos sei. Dann setzten Sie sich ans Klavier, spielten eine vierstimmige Bach-Fuge und rückten «den Kosmos wieder zurecht». Mussten Sie in letzter Zeit häufiger Klavier spielen als auch schon?
Wir durchleben politisch schwierige, anspruchsvolle Zeiten. Viele Themen beunruhigen die Menschen: Die Terroranschläge, die im vergangenen Jahr mitten in Europa angekommen sind, die Migration und die schnell voranschreitende Globalisierung, um nur drei Herausforderungen zu nennen. Ich zähle auf die Bevölkerung, Vertrauen in die Stärke unseres Landes zu haben und in ihren direktdemokratischen Entscheiden Augenmass zu bewahren.

Das war Ihre Hoffnung für das Land. Welches ist das Rezept für Ihren eigenen Seelenfrieden?
Noch immer spiele ich wenn möglich jedes Wochenende Klavier. Das hilft mir, um zur Ruhe zu kommen. Aber es ist schon so: Für meinen Seelenfrieden ist auch der 28. Februar ein wichtiger Tag.

 

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