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Er ist ein Junge aus Srebrenica

1995 stürmten serbische Einheiten die bosnische Stadt Srebrenica und ermordeten Tausende Menschen. Nur wenige überlebten – wie Samedin Selimovic. Eine Geschichte über Fremdenhass, Schmerz und Hoffnung. 

Südostschweiz
10.11.15 - 17:57 Uhr
Politik

von Magdalena Petrovic

Sie zittern. Sie schluchzen. Sie weinen. Sie flehen. Dutzende Frauen sitzen mit ihren Kindern im Bus dicht nebeneinander. Serbische Soldaten stürmen in den Bus, den sie eben aufgehalten haben. Während die einen Frauen die Händchen ihrer Kinder aus Angst festdrücken, tragen die anderen aufgelöst ihre Säuglinge und Kleinkinder auf dem Arm. Es sind Ehefrauen, Mütter, Grossmütter und Schwestern, die vor den serbischen Soldaten sitzen und um das Leben ihrer Kinder fürchten und weinend um Gnade bitten. Die Männer gehen von Frau zu Frau, kontrollieren die Kinder.

Finden sie einen Knaben unter ihnen, wird er mit Gewalt von der Mutter oder Grossmutter weggerissen und ermordet. Ein Soldat stellt sich vor eine junge Frau, die einen kleinen Säugling in Mädchenkleidern an sich presst, und fragt auf Serbisch: «Welches Geschlecht?» Die verängstigte Frau horcht auf, sagt aber mit klarer und selbstsicherer Stimme: «Mädchen.» Der Serbe lässt nicht locker, hakt aggressiv nach: «Mädchen oder Junge?» Wieder antwortet die junge Muslimin klar und deutlich: «Mädchen.»

Der Soldat betrachtet das Kleinkind genauer und fragt nun bereits bedrohlich ein drittes Mal: «Wirklich kein Junge?» Wieder fasst die junge Frau ihren ganzen Mut zusammen und antwortet sicher, laut und deutlich: «Nein, Mädchen.» Der Soldat blickt ihr tief in die Augen. Er bleibt einen Moment so stehen. Plötzlich wendet er sich von ihr ab, geht zur nächsten Frau.

Samedin Selimovic ist der Junge, der als Baby von seiner Mutter als Mädchen verkleidet wurde und damit das Massaker von Srebrenica im Jahr 1995 überlebte. «Wäre meine Mutter nicht auf diese Idee gekommen, würde ich heute nicht hier sitzen», sagt der heute 21-jährige Selimovic, der mit seiner Familie im Kanton St. Gallen wohnt. «Hätte der serbische Soldat mein Geschlecht kontrolliert, wäre ich heute tot.»

Der junge Mann sitzt auf einem Bürosessel in der Agentur «Zone 4 Communications GmbH» in Zürich-Schlieren – die Agentur unterstützt ihn bei seiner Arbeit, denn Selimovic ist heute ein richtiger Star auf dem Sozialen Netzwerk Instagram: Mit einfühlsamen Lebensweisheiten begeistert er seine Fans; rund 400 000 Menschen folgen ihm und lesen seine Worte, die zum Denken anregen sollen. Während Selimovic seine Geschichte erzählt, zuckt er immer wieder mit der Schulter – so als wisse er nicht, mit welchen Worten er das Geschehene rekonstruieren soll. Eine leichte Tränenschicht bildet sich auf seinen Augen, er weint aber nicht.

Ein Schuss neben dem Herzen

Als Selimovic am 29. September 1994 in Srebrenica zur Welt kommt, herrscht in Bosnien und Herzegowina bereits  Krieg. Weil die Spitäler mit verletzten Zivilisten überlastet sind, gebärt seine Mutter zu Hause. Die junge Frau rettet ihren Sohn mit Mädchenkleidern, flieht anschliessend mit dem Bus von Srebrenica nach Tuzla – immer mit der Angst im Rücken, erwischt zu werden, ihren Sohn zu verlieren, nicht zu überleben.

Sein Vater wird als 18-Jähriger von serbischen Soldaten vier Millimeter neben dem Herzen angeschossen – er erleidet einen Herzinfarkt, überlebt aber. Im Jahr 1999 entscheidet sich die junge Familie, ihre Heimat zu verlassen und in der Schweiz einen sicheren Neustart zu wagen – ganz ohne Angst, ohne ihre zerstörte Heimatstadt, ohne die leidenden Überlebenden, aber mit den schrecklichen Bildern des Krieges, des Elends und des Massakers im Kopf.

«Ich wurde zwar inmitten des Krieges geboren, kenne aber die ganze Geschichte von Srebrenica und meinen Verwandten nur von meinen Eltern und Grosseltern», erklärt Selimovic, wieder zuckt er unsicher und traurig mit den Schultern. Er blickt auf den Tisch, erzählt langsam weiter. «Die Hälfte meiner Verwandten wurde ermordet, gefoltert, vergewaltigt oder auf brutalste Art hingerichtet.» Sein Grossvater und dessen fünf Brüder hatten je einen Sohn in der Familie – keiner überlebte das Vorgehen der serbischen Einheiten.

Sein Onkel, der Bruder seiner Mutter, wurde zuerst geschlagen, dann gefoltert – schliesslich starb er. Seine Tante, die Schwester seines Vaters, kam in einem Minenfeld ums 
Leben. «Ich war etwa acht Jahre alt, als meine Mutter mir die Geschichte unserer Familie erzählte», erinnert sich 
Selimovic. «Ich verstand, was sie mir erzählte, die Emotionen kamen erst mit dem Alter, als ich mich immer mehr mit Srebrenica auseinandersetzte, Bilder und Videos im Internet sah.»

Die Folgen des Krieges

Als Kriegsflüchtlinge wird die Familie Selimovic in der Schweiz aufgenommen. Im Alter von fünf Jahren spielt Samedin Selimovic mit anderen Kindern aus dem Balkan, Afrika oder der Türkei im Asylheim. Nach nur wenigen Monaten beginnt für die junge Familie ein neuer Lebensabschnitt: Die Mutter ist schwanger, in Arth-Goldau im Kanton Schwyz finden sie eine Wohnung, der Vater bekommt eine Arbeitsstelle, und die Kinder, Samedins Bruder kommt 2000 zur Welt, dürfen den Kindergarten und die Schule besuchen. Dann ereilt die Familie wieder ein Schicksalsschlag: Im Jahr 2008 erleidet Selimovics Vater seinen dritten Herzinfarkt – 13 Jahre nachdem er in der Nähe des Herzens angeschossen wurde – und stirbt. Für Selimovic bricht eine Welt zusammen. Mit seinem Vater verliert er ein Vorbild, zu dem er schon immer aufblickte.

«Ich verfolge immer am 11. Juli den Jahrestag von Srebrenica», erzählt Selimovic, «dann wird mir bewusst, dass mein Vater an den Folgen dieses Krieges gerstorben ist.» Jedes Jahr ist der 21-Jährige an diesem Tag mit seiner Familie zusammen – sie reden über die Vergangenheit, schauen sich die Gedenkfeier in Srebrenica im Fernsehen an. «Es ist auch wichtig, dass man sich jährlich an das Geschehene erinnert – alleine aus Respekt den Opfern gegenüber», meint Selimovic. Seine Mutter habe ihm viel von ihren Kriegserlebnissen erzählt, was ihr ein Stück weit geholfen habe, die Bilder von Vergewaltigungen, Erschiessungen und Hinrichtungen zu verarbeiten. «Ihr Mutterinstinkt hat aber nie zugelassen, dass sie mir das Geschehene im Detail schildert», so Selimovic.

Massengrab in Potocare besuchen

Weil der 21-jährige Selimovic eine 
Ausländeraufenthaltsbewilligung F besitzt, darf er nicht aus der Schweiz ausreisen. Dieses Jahr will er endlich, nach vielen Jahren, wieder einmal nach Srebrenica reisen. Besonders am Herzen liegt ihm, sein Elternhaus sowie das Massengrab in Potocare zu besuchen und seinem Grossvater und seinen Verwandten die Ehre zu erweisen.

«Am Massengrab holt einem die Vergangenheit immer schnell ein. Wenn ich vor dem Denkmal, der grossen Steinplatte mit den Namen aller Opfer, stehe und zu zählen beginne, 
höre ich bereits bei zehn auf», erklärt Selimovic. Dann frage er sich, wie Menschen innert weniger Tage mehr als 8500 Frauen, Kinder und Männer ermorden konnten. «Man kann verzeihen, aber niemals vergessen», sagt er, «und das finde ich richtig.» Diese Ansicht hilft ihm, mit dem Schicksal seiner Familie umzugehen und selbst keinen Hass zu schüren. «In meinem Freundeskreis gibt es auch Kroaten und Serben», erzählt Selimovic. Zum ersten Mal lächelt er. Mittlerweile sitzt er locker im Bürosessel – erzählt von seiner Lebenseinstellung. «Für den Krieg mache ich nicht die jungen Menschen meiner Generation verantwortlich. Sie können ebenso wenig etwas dafür wie ich. Nur die Kriegsverbrecher – egal, ob Bosnier, Kroate oder Serbe – sind an diesen grausamen Taten schuld.» Seine serbischen Freunde gehen mit dem 21-Jährigen sogar in die Moschee, fasten mit ihm während der Ramadan-Zeit, wenn sie bei ihm zu Hause sind. «Natürlich reden wir auch über den Krieg, aber wir gehen nicht in die Tiefe – denn jeder hat seine 
Geschichte.»

Dieser Artikel ist Teil einer Serie «Jugoslawienkrieg: 20 Jahre danach».

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