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Glückwunsch

Pesche Lebrument hat beschlossen, dass er jetzt eine Lebenskrise hat! Jeden Sonntag berichtet er nun für die Zeitung «Südostschweiz» und «Südostschweiz Online» aus seinem Alltag. Diese Woche über nicht vorhandene Geburtstagswünsche.

Südostschweiz
04.12.16 - 08:00 Uhr
Ereignisse

Heute bin ich 43 Jahre alt. Auf den Geburtstag genau. Es ist amtlich. Steht im neuen Pass, den ich an der Hotelrezeption vorzeigen musste. Der alte ist nach einem Jahrzehnt abgelaufen. Beiden Ausweisen gemein ist das Geburtstagsdatum.  Nur trägt mein aktuelles Passfotogesicht erstmals grau im Bart und Silber in der Schläfe. Momentaufnahme.

Tage zuvor fragte mich meine Freundin, was ich mir wünsche. Was für eine Frage. Es will mir spontan nichts einfallen. Wie vor jedem Geburtstag. Ich bin nicht wunschlos glücklich. Nur eben wunschlos.

Was sich Erwachsene sehnlichst wünschen, war mir als Kind völlig klar. So schenkte ich meinem Vater mehrmals Krawatten. Er trug sie ja schliesslich täglich zur Arbeit.

Selbst noch Knirps hatte ich tausend Wünsche. Autorennbahn, Lego, Zauberkasten.  Quälend der Entscheid, welcher Wunsch Wirklichkeit werden sollte. Überhaupt folgte damals der geburtstagsfeierliche Festakt einem klaren Ablauf: Mit Spielkameraden unter Girlanden. Lieblingsessen. Happy Birthday-Gesinge. Abschliessende Bescherung bei Kuchen. Alle furchtbar nett.

Heute folgen Geburtstage keinem Drehbuch mehr. Geblieben ist nur der Kuchen. Mama backt ihn immer noch. Altes Familienrezept. Staubtrocken. Aber ich mag ihn. Kindheitsgeschmack.

Was wünsche ich mir? Meine Freundin wusste genau, dass ich auf diese Frage keine Antwort habe. Deshalb hat sie sich einen Wunsch für mich erdacht. Sie weiss, ich mag geschichtsträchtige Städte. Zum Geburtstag hat sie deshalb heimlich dieses Hotel gebucht, hat die Koffer und mich gepackt.

Jetzt sitz ich mit ihr hier im Hotel-Restaurant in dieser Stadt. Vor uns duftend dampfende Spaghetti Bolo. Mein Lieblingsessen noch heute.  Meine Freundin schiebt mir eine Überraschungsfrage über den Tisch: «Häsch eigentli Angscht voram älter werda?». Ich könnte ihre Neugier jetzt mit einem «sicher nit» auflaufen lassen. Stattdessen stilles Nachdenken.

Beinahe ein halbes Jahrhundert in mir vereint, ein halbes Leben gelebt. Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Mit Angst, Gleichgültigkeit, Ignoranz? Mit Freude bestimmt nicht.

Auf jeden Fall ist das Altern ein Tauschgeschäft. Erfahrung ersetzt Unwissenheit. Selbsterkenntnis tritt an Stelle der Schönheit. Perfide ist jedoch das Tempo, sowie die endgültige Konsequenz des Alterns.

«As isch a kli, wia unbremst in a Wand z’fahra», entgegne ich Spaghetti aufrollend. Meine Freundin lacht laut. Sie sagt, sie freue sich aufs Älter werden. Es sei interessant die Veränderungen zu beobachten. Kunststück, sie ist fast ein Jahrzehnt jünger.

Die Spaghetti im Bauch, ich auf den Füssen. Verdauungsspaziergang durch die mittelalterliche Stadt. Ein Denkmal auf einem Platz.  Kniesocken, Lockenperücke, edles Gewand. Ein Unbekannter aus einer anderen Zeit. Offenbar eine Stadtberühmtheit. Eingemeisselt sein Geburtstagsdatum. Von… bis.

Handyvibration. Glückwunsch-SMS: «Du wirst nicht älter, es verrinnt lediglich Lebenszeit». Ich blicke vom Handy hoch zum Unbekannten. In welchem Alter haben sie ihn wohl abgebildet? Behauene Momentaufnahme.

Ich denk mir, irgendwie bin ich am Geburtstag auch sowas wie ein Denkmal. Nicht aus Stein. Geformte Zeit aus Fleisch und Blut. Freunde und Familie beschenken und beglückwünschen mich. Sie heben mich auf einen unsichtbaren Sockel. Alle furchtbar nett.  

«Bisch am träuma?», fragt mich meine Freundin. Ich kneife ihr in den Nacken und flüstere ihr meinen Dank ins Ohr. Sie hat mich hierher gewünscht.  Wir schlendern gemeinsam durch gepflasterte Gassen und gebaute Geschichte, vorbei an vielen Geschäften. Nichts in den Schaufenstern, dass Sehnsucht auslöst. Seit wann habe ich eigentlich keine Wünsche mehr? Mit dem Alter entschwunden?

Zu meinem nächsten Geburtstag mach ich mir selbst ein Geschenk. Ich wünsche mir Wünsche, Verlockungen, Verlangen, Träume. Nicht länger wunschlos. Glückwunsch!

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