×

«Schatz, sind die Kerzen aus?»

In «Ruchs Rubrik» beleuchtet Christian Ruch Bedenkliches, Merkwürdiges und Lustiges aus der Region Südostschweiz und darüber hinaus. Heute erklärt er den Begriff «postfaktisch».

Südostschweiz
03.12.16 - 10:00 Uhr
Ereignisse

Der Advent ist purer Psychostress, und das hat vor allem zwei Gründe: Weihnachtsmärkte und Adventskränze. Weihnachtsmärkte laden mit ihrem Klingglöckchenklingelingeling zum beschaulichen Bummeln. Doch wer beschaulich bummelt, muss alle paar Meter anhalten, weil Bekannte einen zum Schwatz nötigen. Ob das wirklich Bekannte sind, sei einmal dahingestellt. Ich treffe auf Weihnachtsmärkten nämlich laufend Leute, von denen ich keine Ahnung habe, wer sie sind. Denn mit 22 setzt die Verkalkung ein, heisst also, dass es bei mir nun schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert munter rieselt. Deshalb überlege ich oft krampfhaft, wer da jetzt wohl vor mir steht. Gut, auch dann gibt es unverfängliche Gesprächsinhalte. Man kann sich etwa darüber auslassen, dass an der Fassade eines Churer Warenhauses eine riesige rote und zu allem Unglück auch noch illuminierte Schleife hängt, die aussieht, als habe man Donald Trump persönlich zum Chefdekorateur ernannt. Ist die Konversation überstanden, frage ich meine Liebste oft, wer denn das war. Sie weiss es meistens und fügt im Worst Case noch ein tadelndes «…das ist übrigens ein Facebook-Freund von dir!» hinzu. Deshalb meine Bitte: Wenn wir uns auf dem Weihnachtsmarkt treffen und Sie sich halbwegs vernünftig mit mir unterhalten wollen, nennen Sie zuerst Ihren Namen, Ihren Wohnort und – ganz wichtig – woher wir uns kennen. Danke.

Ebenso der Horror: Adventskränze. Genauer gesagt brennende Adventskränze. Kaum sind wir aus dem Haus, frage ich die Liebste angstschweisstriefend: «Schatz, sind die Kerzen aus?» Mir dabei ausmalend, dass wir bei der Heimkehr vor einer verkohlten Ruine stehen, deren einstige Bewohner zum wütenden Lynchmob mutiert sind. Doch da gibt es Abhilfe: Eine Zwangshandlungsgestörte berichtete neulich im Internet, dass sie vor dem Verlassen der Wohnung immer ein Handyfoto ihres Herds macht, um unterwegs sicher zu sein, dass er abgestellt ist. Das mache ich jetzt auch. Da man Fotos aber vielleicht mal aus Versehen löscht, poste ich sie noch auf Facebook. Sie können das gern liken, wenn Sie mögen. Und wer weiss, vielleicht erkenne ich Sie ja dann auf dem Weihnachtsmarkt.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Ereignisse MEHR