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Lokführer gesucht

In «Ruchs Rubrik» beleuchtet Christian Ruch Bedenkliches, Merkwürdiges und Lustiges aus der Region Südostschweiz und darüber hinaus. Heute nimmt er euch mit auf eine Zugfahrt. 

Südostschweiz
22.10.16 - 10:00 Uhr
Ereignisse

Für Wirtschaftsmigranten aus Drittweltstaaten (in meinem Fall Deutschland) ist das Schweizer Bahnwesen nach wie vor faszinierend, obwohl selbst die SBB mal schwächeln. Doch das ist kein Vergleich zu Deutschland, wo Züge stark verspätet, ohne funktionierendes Klo, von grimmigen Zugbegleitern terrorisiert, in geänderter Wagenreihung ohne Sitzplatzreservierung oder aber auf Geheiss grössenwahninniger Gewerkschafter gar nicht fahren.

Umso mehr irritieren mich Ferrovialflüchtling-Vorfälle wie letzten Samstag im RhB-Regio 1664 Tirano-St. Moritz. Der traf ohne grössere Zwischenfälle (Kollision mit Bär, zwecks Fotostopp die Notbremse ziehende Touristen, Sabotageakte rebellischer Romanenverbände o.ä.) fahrplanmässig in Pontresina ein, sodass der Lokführer pünktlich dem verdienten Feierabend entgegenschreiten konnte. Was er denn auch schnellen Schrittes tat.

Da Pontresina bekanntlich nicht St. Moritz ist, brauchte es nun einen neuen Lokführer. Doch der war nicht auffindbar, wie die Kondukteurin mit verschämtem Lächeln, das durch den Unterländer Slang eher noch schlimmer wurde, mitteilte. Sie, da ging es mir wie einem indischen Bekannten damals beim Swissair-Grounding: Ich war ebenso enttäuscht wie fassungslos.

Mein nettes Angebot, dank der beim PC-Spiel «Train Simulator» erworbenen Fähigkeiten den Zug sicher ans Ziel zu bringen, und das sogar gratis, zog besagte Kondukteurin, wie ihr Mienenspiel verriet, nicht mal ansatzweise in Betracht. Ebenso wenig erwog sie, zu unser aller Beschäftigung ein paar Kartons Pizza zu ordern oder im nahen Celerina die wunderbare Romana Ganzoni aufzubieten, auf dass sie uns mit ihrem Werk beglücke.

Mittlerweile dem Schabernack meiner gelangweilten Liebsten ausgeliefert, setzte ich verzweifelt einen Notruf auf Twitter ab. Dafür bekam ich zwar zwei Likes, aber keine Antwort, schon gar nicht von @rhaetischebahn. Was ich bekam, war ein Lokführer, der mit 20 Minuten Verspätung doch noch auftauchte. Vor Erleichterung fröhlich pfeifend zuckelte das Zügli weiter. Ich aber liess mich aufs «Allegra»-Polster fallen, froh, dass die RhB keine Swissair ist. Und erst recht keine Deutsche Bahn.

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