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Kinderfragen

Pesche Lebrument hat beschlossen, dass er jetzt eine Lebenskrise hat! Jeden Sonntag berichtet er nun für die Zeitung «Südostschweiz» und «Südostschweiz Online» aus seinem Alltag. Diese Woche: neugierige Kinderfragen.

Südostschweiz
28.08.16 - 09:00 Uhr
Ereignisse

von Pesche Lebrument

„Was isch eigentli gföhrlicher? A Tiger oder a Löwe?“ Ich bin sprachlos. Die Frage kommt von unten aus dem Hinterhalt. Ich schaue von oben herab in diese forschenden Kinderaugen. Sein Blick ruht auf mir. Mein Neffe erwartet jetzt tatsächlich eine Antwort.

Löwe oder Tiger? Sie ist eine jener Fragen, über die ich mir mein ganzes Leben lang noch nie Gedanken gemacht habe. Ich wusste nicht einmal, dass diese Frage überhaupt existiert. Es ist nicht das erste Mal, dass mich mein Neffe verblüfft.

Kurz vorher laufen wir durch den kleinen Park. Er und ich, der kinderlose Onkel. „Händli heba“, fordert er. Einige Schritte später seine Frage: „Wär liabsch Du?“ Ist das eine Fangfrage? Was will er hören? Den Namen meiner Freundin? Meiner Mutter? Soll ich ihm sagen, dass ich nur ihn alleine liebe? “Geht Dich nichts an” ist keine Option, er könnte heulen. Warum fragt er das? Warum genau in diesem Moment?

Nach einer Weile des Grübelns antworte ich: „I liaba ganz vieli Menscha. Mini Mama, da Papa, mini Fründin. Aber alli ufa anderi Art“. Ich hoffe, dass ich jetzt etwas Superschlaues gesagt habe und schaue ihn erwartungsvoll an. Sein Gesichtsausdruck verformt sich zu einem Fragezeichen. Er scheint mich zu fragen, ob er das verstehen müsse.

Er lässt meine Hand los und zeigt auf die Glace-Kühltruhe in der Auslage. Zufällig und dennoch zielstrebig hat er mich zum Kiosk am Ende des kleinen Parks geführt. Vornübergebeugt überreicht ihm die Kioskfrau seine ‚Winnetou‘, lässt Zahnweiss aufblitzen und die Augen kindgerecht klimpern. Er versucht sofort die verpackte Begierde vom Papier zu lösen.

„Was sait ma?“, sage ich mit ungeübt strengem Unterton. Warten. Keine Reaktion. Weiter warten. Die Verkäuferin verharrt in ihrer gebückten Haltung, die Hände auf ihre Knie gepresst. Wieder warten. Sie blickt zu mir hinüber. Ihr eingefrästes Grinsen gibt mir zu verstehen, dass sie nicht den ganzen Tag so stehen könne.

„Was sait ma-ha?“ sage ich, und betone das Ende der Frage laut in die Länge ziehend. Ohne von seiner Winnetou aufzusehen, flüstert er ein fast schon trauriges „danka“. Wortlos stapft die Verkäuferin davon.

Ich habe hier eben ein Kind konditioniert. Aber keine wirkliche Frage gestellt. Ich weiss nicht, was Kinder denken. Ich war selbst mal eins. Schablonen im Kopf, Kindersprache verlernt. Ich: „Ischas guat?“ Er: „M-hm.“

Wer ist stärker, Tiger oder Löwe? Die Frage taucht auf, nachdem das Glace verschwunden ist. Intensive Nachdacht meinerseits. Schliesslich antworte ich ihm: „As kunnt druf a wär meh Hunger hät.“ Unsere Blicke treffen sich erneut und ruhen ineinander. Warten. Da! Seine Mundwinkel gleiten höher und höher. Er strahlt mich an.

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