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Vergangenheitsbewältigung

Pesche Lebrument hat beschlossen, dass er jetzt eine Lebenskrise hat! Jeden Sonntag berichtet er nun für die Zeitung «Südostschweiz» und «Südostschweiz Online» aus seinem Alltag. Diese Woche: Die Vergangenheitsbewältigung.

Südostschweiz
14.08.16 - 10:00 Uhr

von Pesche Lebrument

„So hät min Sohn früaner usgseh“, sagt mein Freund mit unüberhörbarem Stolz. Er zeigt auf das Säuglingsbild auf seinem iPad. „Jö, süss. Und da Noah isch jetzt wia alt?“, frage ich nach. „Vier Mönet“, erwidert er mit diesem seligen Gesichtsausdruck, den ich nur von frisch gebackenen Vätern kenne. Noah schläft unbeeindruckt daneben im Kinderwagen auf dem Gartensitzplatz.

Sein Finger flirrt erneut über den flachen Computer. Aufblitzende Augen, mein Freund hält mir spitzbübisch ein weiteres Foto entgegen. „Das git’s jo nit“, schiesst es aus mir heraus. Er und ich, vor 25 Jahren. Ich mit vollem Haar. Er daneben, der hagere Kerl, der er einmal war. Triumphierend stehen wir vor unserer ehemaligen Schule. Heimlich hatten wir frühmorgens alle Eingänge mit Stahlketten verschlossen. Der Unterricht begann an diesem Tag etwas später.

„Wohär häsch das?“, frage ich ungläubig. „Digitalisiert“, erklärt er freudig. Zudem habe er damit begonnen alle seine Fotos bei einem Internet-Fotodienst hochzuladen. Nun könne er seine Bilder jederzeit und überall auf der Welt abrufen. Auf dem Handy, dem Laptop, dem iPad. Ich bin fasziniert.

Zuhause. Ich hatte es mir schon so lange vorgenommen. Heute ist der Tag, an dem ich anfange meine Bilder auszumisten. Gartensitzplatz-Erlebnis sei Dank. Mein ganzes Leben liegt vor mir auf der Harddisk. Es sind duzende Ordner mit klingenden Namen wie ‚Ferien 2013‘, ‚Diverse‘ oder ‚Neuer Ordner (2)‘.

Es müssen weit über 20‘000 Bilder sein. Die digitale Bilderflut hat meine erste Handykamera ausgelöst. Ich klicke hier und dort. Plötzlich sind sie wieder da, die vielen kleinen, schon vergessen geglaubten Geschichten. Doch welche lösche ich? Dieses Bild ist zwar unscharf, aber auf dem anderen sehe ich entsetzlich aus. Diese Augenringe! Weshalb habe ich eigentlich so viele Sonnenuntergänge und Flugzeugflügel geknipst? Ich erhalte eine SMS. Wie versprochen hat mir mein Freund die digitalisierten Jugenderinnerungen geschickt. Und Bilder von uns auf dem Gartensitzplatz. Und von Noah. Ich speichere sie zu den 3‘864 anderen Bildern auf meinem Handy.

Ich beschliesse, mir zunächst einen Überblick über meinen ganzen Bilder-Fundus zu verschaffen. Ich öffne den Schrank. Der schwere Karton steht zwischen den vielen Fotoalben, sowie der Schachtel mit alten Glückwunschkarten und Liebesbriefen. Im Karton stapeln sich zahlreiche Umschläge. Darin ruhen hunderte auf Fotopapier gedruckte Erinnerungen. ‚Photocolor Kreuzlingen‘ steht auf den meisten. Gibt’s die Firma noch?

24 Bilder finden sich in vielen Fototaschen. Zudem die Bilder mit dem aufgemalten, schwarzen X, die unscharfen Aufnahmen, die man nicht bezahlen musste. Ich seh mich im Wandel der Zeit, finde Fotos mit faltenfreien Versionen von mir. Wenigstens existieren keine Schwarz-Weiss Bilder. Also nur wenige. Säuglingsbilder.

Dies alles zu sortieren erscheint mir Herkules-, wie auch Mammutaufgabe zugleich. Oder ist es gar eine Sisyphusaufgabe? Jedenfalls werde ich es mit überschlagsmässiger mathematischer Gewissheit nie und nimmer schaffen, dies alles am heutigen Tage zu ordnen.

Ich verstaue den Karton wieder im Schrank und fahre den Computer herunter. Ich starre auf meine sich reflektierende Silhouette auf dem Bildschirm. Je mehr ich knipse, desto weniger kann ich festhalten, fährt es mir durch den Kopf. Im Gegensatz zu meinem täglich erlebten Leben, erscheint mir mein Fotoleben dafür wie eine einzige Party. Ich habe vorwiegend die fröhlichen Momente abgebildet, weit über 20‘000 Mal. Gespeichertes Glück. Ich kann mich in den schönen Augenblicken mittlerweile sogar verlieren.

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