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«Es gibt immer wieder Situationen, die mich innerlich durchschütteln»

Bei ihm liefen die Fäden zusammen: Patrik Vanek, Leitender Arzt auf der Intensivpflegestation des Kantonsspitals Graubünden, erklärt im Interview, was in den letzten sieben Tagen die grösste Herausforderung war. Zudem spricht er über den Vorteil einer Patientenverfügung und verrät, ob er Angst vor dem Tod hat.

Südostschweiz
26.03.16 - 14:21 Uhr

mit Patrik Vanek sprach Denise Erni

Herr Vanek, vor wenigen Minuten ging Ihre Dienstwoche als verantwortlicher Arzt auf der Intensivpflegestation (IPS) zu Ende, Ihre Kollegin löste sie ab. Was ist die grösste Herausforderung einer solchen Woche?
Patrik Vanek:
Die Herausforderung besteht in erster Linie darin, verschiedensten Ansprüchen gleichzeitig gerecht zu werden. An vorderster Stelle stehen dabei Patienten, die bereits auf der IPS liegen, und andere, die gerade aufgenommen werden. Dann haben wir enge Beziehungen zu den Angehörigen und arbeiten mit unseren Zuweisern und den Spezialisten anderer Bereiche zusammen. Wir sind gleichzeitig Ärzte, Ausbildner und Manager. Und das rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr. 

1300 Patienten werden im Durchschnitt pro Jahr auf der IPS behandelt. Wie viele waren es letzte Woche?
Wir haben in den letzten sieben Tagen 27 Patienten aufgenommen, elf davon sind bereits wieder zu Hause. Drei Patienten sind leider bei uns oder auf der Normalstation verstorben. Die anderen sind entweder noch bei uns auf der IPS oder liegen auf der Normalstation. Von dieser Warte aus betrachtet, war es für mich eine ganz gewöhnliche Woche. 

Einer dieser 27 Patienten war der 16-jährige Luca*, den wir für unsere Reportage begleitet haben. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von seinem Fall hörten? 
Da gehen gleichzeitig immer verschiedene Überlegungen los: Einerseits ist da ein junger Mensch, der in einer Krise steckt und bei dem man alle Register zur Verfügung haben will, um diese nötigenfalls zu ziehen. Fachlich geht es andererseits darum, möglichst breit abgestützt zu sein, damit man ja keine Differenzialdiagnose verpasst. Wir greifen dabei glücklicherweise auf ein breites und kompetentes Arsenal an Fachbereichen und Experten innerhalb des Kantonsspitals zurück, das uns täglich in der Behandlung unserer Patienten unterstützt.

Luca geht es besser, und er liegt auf der Normalstation. Sie haben von Anfang an daran geglaubt, dass er wieder ganz gesund wird. 
Ja, ich hatte ein gutes Gefühl. Es gibt im Spek-trum der Differenzialdiagnosen auch Varianten, die im schlimmsten Fall in einer Katastrophe enden. Glücklicherweise kommt das aber selten vor. Neun von zehn solcher Patienten erholen sich wieder, allerdings nicht immer vollständig. Angesichts der Herausforderung darf man in solch einer Situation nicht «die Waffen strecken». Man muss mit der Haltung hineingehen, dass es schon gut kommt. 

Immer aber gehen die Geschichten nicht so gut aus wie jene von Luca. Menschen sterben oder liegen schwer verletzt mehrere Wochen auf der IPS.
Gerade bei lebensbedrohlichen Ereignissen kann es mehrere Tage und Wochen dauern, bis der Körper eine Erkrankung oder einen Unfall verarbeitet hat. Dabei durchlebt der Patient zunächst eine fulminante Entzündungsreaktion im ganzen Körper. Danach folgen Phasen der Wehrlosigkeit mit einer grossen Immunschwäche, wo jegliche Formen von weiteren Komplikationen auftreten können. Solche Komplikationen sind nicht selten ein Grund, dass der Patient nicht überlebt.

Wenn also die erste Krise überwunden ist, heisst das nicht automatisch, dass man über den Berg ist?
Stimmt. Es folgen weitere Krisen, und dabei hängt es vor allem auch davon ab, wie viele Reserven ein Mensch hat, wie alt er ist, wie sein Allgemeinzustand vor dem Ereignis war und ob er Vorerkrankungen hat.

Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, werden lebenserhaltende Massnahmen oft auch auf Wunsch der Angehörigen auf ein Minimum reduziert. Schmerzen werden gelindert, die Lebensdauer verkürzt. Hat sich dieses Loslassen in den letzten Jahren verändert? 
Ich habe nicht das Gefühl, dass dies eine Zeitgeistfrage ist, sondern weitgehend eine kulturelle, jene der Familienkultur. Dabei spielen die verschiedenen Herkünfte, nicht nur geografische, Familientraditionen und die Wertehaltung eine Rolle. Ich habe schon alle möglichen Variationen erlebt: Es gibt Familien, in denen ein Aufhören, ein Loslassen nicht akzeptabel ist. Dann wiederum gibt es Familien, die sagen, dass es im Sinne des Patienten wäre, das Leiden in irgendwelcher Form prioritär zu behandeln, auch wenn das Überleben kürzer wird. Beide Betrachtungsweisen sind heute genauso präsent wie früher auch. Man kann nicht sagen, heute ist es «modern», früher loszulassen. Das ist etwas, das jeder Mensch für sich selber entscheiden muss. Und genau da liegt der Wert der Patientenverfügung.

… die es einem ermöglicht, in guten Zeiten schriftlich festzuhalten, was ich im Falle eines Falles möchte.
Diese Verfügung ermöglicht es mindestens ansatzweise, die Frage der eigenen Werte und Wünsche vorausschauend zu klären. Das wiederum ist auch für die Angehörigen eine Erleichterung, da diese wissen, welches Leben der Patient als lebenswert erachtet hätte. Es geht bei der Patientenverfügung vor allem um die Klärung der Werteerhaltung eines jeden Einzelnen.

Haben die Patientenverfügungen zugenommen?
Was sicher zugenommen hat, sind die Bemühungen, die Patientenverfügung in der Bevölkerung durchzusetzen. Und ich glaube, dass sie den Menschen mittlerweile auch ein Begriff ist. Ob es aber wirklich mehr davon gibt, kann ich nicht sagen. Wir klären diese Frage bei jedem unserer Patienten, fragen sie wenn möglich selber, ansonsten ihre Angehörigen, oder wenden uns an die Hausärzte. Dabei geht es genau um diese Werteermittlung, die ganz entscheidend wichtig ist, damit man dem Wunsch des Betroffenen möglichst gerecht wird. Eine der zu beantwortenden Fragen ist: Welches Leben hat der Patient als lebenswert erachtet?

Auf einer Intensivstation stehen hoch technologische Geräte. Lebt man heute dank dieser Technik länger als noch vor 20 Jahren?
Die IPS wird teilweise auch als Maschinenpark bezeichnet (lacht). Man lebt sicher auch dank dieses technischen Fortschritts länger als früher – und es werden auch immer ältere Patienten auf der IPS behandelt. Die grösste Herausforderung dieses technischen Fortschritts besteht darin, zu ermitteln, ob das mittlerweile Machbare auch immer sinnvoll ist. Rein technisch betrachtet müssen wir als Verantwortliche ausserdem erreichen, dass das theoretische Wissen tatsächlich ganz praktisch beim Patienten ankommt. Wir legen bei uns sehr viel Wert darauf, dass man auch bei sogenannten simplen Behandlungen darauf achtet, keine Abkürzung zu nehmen. Die Technik ersetzt nicht den Menschen.

Sie haben schon viele Menschen erlebt, die dem Tod näher waren als dem Leben. Gab es auch einmal ein Wunder?
Etwas wirklich Metaphysisches kann ich nicht nennen, das habe ich nicht erlebt. Aber ich habe wunderschöne, sehr menschliche Momente erlebt, die man als Wunder bezeichnen kann. Es sind beispielsweise Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, die sehr rührend sein können. Dann, wenn die erwachsenen Kinder am Bett ihrer schwerkranken oder sterbenden Eltern sitzen. Alleine so etwas geht einem schon sehr nahe. In diesen Situationen geht es um die Essenz des Lebens, da erlebt man die Menschen ganz anders, erlebt sie ohne Maske und Fassade. Man spürt die pure Menschlichkeit. Das sind für mich Wunder.

Wie geht der Mensch Patrik Vanek mit den teilweise sehr schweren Schicksalen um?
Es kommt auch bei mir immer wieder zu Situationen, die mir sehr nahe gehen, die mich innerlich durchschütteln und bei denen die Tränen zuvorderst sind. Dann muss man sich wieder bewusst machen, dass es nicht um einen selber geht, sondern dass man für den anderen Menschen da sein muss – und nicht umgekehrt. Aber es kam auch schon vor, dass wir uns mit den Angehörigen, die sich von ihrem Sohn verabschieden mussten, in den Armen hielten. Das sind sehr schlimme, aber auch sehr menschliche Momente.

Wenn man täglich mit dem Tod konfrontiert ist, hat man da einen anderen Blickwinkel aufs Leben?
Es relativiert schon einiges. Man sagt sich auch immer wieder einmal carpe diem und geniesst das Leben etwas bewusster. Und es ist tatsächlich immer ein Segen und Zufall, dass einem noch nichts passiert ist. Auf dem Nachhauseweg denkt man noch an die Schicksale, die einen tagsüber bewegt haben, stolpert man aber kaum zu Hause über das erste Spielzeugauto, ist man wieder wie alle anderen (lacht).  

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein, vor dem Tod nicht. Das Sterben ist allerdings ein anderes Thema. Diesem letzten Lebensabschnitt sollten wir nach Möglichkeit mit Würde und Demut begegnen. Glücklicherweise leben wir in einer Welt, in der Möglichkeiten bestehen, sich unterstützen zu lassen.

* Name von der Redaktion geändert.

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