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«Der Junge sollte 
langsam aufwachen»

Ein 60-jähriger Patient wurde bewusstlos im Wasser treibend gefunden und fast eine Stunde reanimiert. Reaktionen zeigte der Mann bei der Einlieferung auf der IPS des Kantonsspitals Graubünden keine mehr. Der Abschied steht bevor. Und warum wacht Luca* nicht auf? Teil 3.

Südostschweiz
23.03.16 - 10:00 Uhr

von Denise Erni (Text) und 
Olivia Item (Bilder)

Im Einzelzimmer auf der Intensivpflegestation (IPS) brennt an diesem Donnerstagmorgen eine kleine orange Duftlampe – ein Zeichen der Palliativmedizin, dass der Abschied bevorsteht. Vor wenigen Stunden wurde der 60-jährige Patient aus einem anderen Behandlungsraum dorthin verlegt. Sein Kreislauf machte nicht mehr mit, die Organe versagten. Vor wenigen Minuten ist er im Beisein seiner Ehefrau verstorben. «Bevor sein Sohn in Australien ins Flugzeug stieg, habe ich noch mit ihm gesprochen», sagt Patrik Vanek, der diensthabende Leitende Arzt. «Er schaffte es nicht mehr, rechtzeitig da zu sein.»

Auf die Frage, ob der Verstorbene als Organspender infrage gekommen wäre, meint Vanek: «Unser Patient ist an einem Kreislaufversagen und seinen Folgen verstorben.» Unter diesen Umständen ist keine Organspende möglich. Um eine Organspende vornehmen zu können, muss ein Hirntod vorliegen (siehe Kasten).

Es sind Schicksale wie diese, die 
sich immer wieder auf der Intensivpflegestation ereignen und die das Team verarbeiten muss. «Man lernt, damit umzugehen», sagt Corina Bordin, stellvertretende Leiterin 
Pflege. Abgehärtet seien sie deswegen 
nicht, denn «sonst würde die Empathie fehlen. Es hilft auch, dass wir 
verstehen, wie es zu dieser Situation gekommen ist.» Wichtig sei, dass 
man die Schicksale nicht nach 
Hause mitnehme. «Und dass wir 
uns jederzeit im Team austauschen und Unterstützung beiziehen können.»

Trotz der tödlich verlaufenden Schicksale gibt es auf der Station auch schöne Momente: Schwerverletzte oder kritisch erkrankte Patienten, deren Überlebenschancen bei der Einlieferung auf der IPS gering waren und die nach einigen Monaten mit ihren Familienangehörigen zu Besuch kommen und glücklich ihre Fortschritte zurück ins Leben aufzeigen.

Der 60-Jährige aber, er hat es nicht geschafft. Sein Lebensweg endete heute. Im Zimmer richten die Pflegefachfrauen den Verstorbenen her, sodass Familie und Freunde in Ruhe Abschied nehmen können.

Hände ans Bett fixiert

Im Vierbettzimmer nebenan befindet sich der 16-jährige Luca* wieder im Tiefschlaf. Inzwischen hat er immerhin kurze, wache Phasen. «Er öffnet die Augen, verhält sich aber nicht adäquat, und sein Blick fixiert nicht», sagt Intensiv-Pflegefachfrau Irene Mir zu Vanek, als er zur Visite kommt. Dann schildert ihm auch noch die Assistenzärztin Lucas Nacht und seinen Krankheitsverlauf. Eine Magnetresonanz-Untersuchung (MRI) steht am Nachmittag noch an.

Während die Ärzte das weitere Vorgehen besprechen, fährt Irene Mir mit einem nassen Lappen über Lucas Stirn, wäscht danach seine Augen aus. Sie spricht stets mit ihm und erklärt ihm, was sie macht. «Wir gehen davon aus, dass auch bewusstlose Menschen eine Wahrnehmung von der Aussenwelt haben», sagt sie. «Sie sollen durch unsere Zuwendung beruhigt werden.» Ab und zu öffnet er die Augen, er nimmt sie aber nicht wahr. «Luca, du bist im Spital in Chur, du hast einen Schlauch im Mund, der dir beim Atmen hilft.» Er schliesst die Augen wieder. Irene Mir putzt seine Nase, wäscht seinen Mund und saugt ihm Speichelsekret aus dem Tubus ab. Aufgrund der Erkrankung sowie der Infusionsbehandlung hat sich sehr viel Wasser in Lucas Körper angesammelt und er sieht dadurch sehr aufgedunsen aus. Heute sind seine Hände am Bett fixiert. «Eine reine Sicherheitsmassnahme», erklärt Irene Mir. «Wird er wach, geht sein erster Griff zum Tubus, den er herauszureissen versucht, weil der sehr störend ist.» So schnell, wie das passiere, könne niemand von ihnen reagieren.

Mobilität Schwerkranker fördern

Nach dieser Morgentoilette bekommt Luca Besuch von Hubert Zimmermann, dem Kinästhetik-Trainer. Seine Aufgabe in diesem interdisziplinären Team ist es, die Mobilität von Schwerkranken zu fördern und das Pflegeteam darin zu unterstützen. Er «liest» sich gewissermassen in die Bewegungen der Patienten ein und versucht, diese zu unterstützen. «Die Bewegung ist bereits vom ersten Tag an sehr wichtig», sagt er, zieht Luca Thrombosestrümpfe an und löst die Fixationen an den Händen. Während er mit dem künstlich beatmeten Patienten arbeitet, erklärt er ihm, was er macht. Luca liegt auf der Seite, langsam richtet ihn Zimmermann auf, dann sitzen sie nebeneinander am Bettrand. Fünf Minuten bleibt er aufrecht sitzend, die Augen immer wieder einmal kurz geöffnet, der Blick ins Leere. Bewusst bekommt Luca davon nichts mit. Dann lehnt er sich zurück, das Zeichen, sich wieder hinlegen zu wollen, Zimmermann geht mit der Bewegung mit, hilft Luca, sich hinzulegen.

«Schlimmsten Stunden»

Nach einer kurzen Pause steht bereits Physiotherapeutin Claudia Bless am Bett von Luca. Sie bewegt seine Beinmuskulatur, streckt und beugt seine Beine. Luca lässt es über sich ergehen. «Die Physiotherapie ist ebenfalls sehr wichtig, damit die Gelenke der Patienten nicht versteifen», erklärt sie. Nach einer Viertelstunde verabschiedet sie sich von Luca, sie geht zur Patientin im Bett nebenan.

Sowohl die Physio- als auch die Kinästhetik-Therapie sind auf der IPS fester Teil auf dem Weg zurück ins Leben. Wenn möglich bereits vom ersten Tag an. «Es ist nachgewiesen, dass die Beiträge der Therapeuten helfen, dass Patienten früher genesen und wieder schneller auf die Beine kommen. Deshalb betrachten wir sie als Teil des Behandlungsteams», erklärt Vanek den Einsatz der diversen paramedizinischen Spezialisten.

Inzwischen sind Lucas Eltern und seine Schwester eingetroffen. Sie sitzen an seinem Bett, halten seine Hand und sprechen mit ihm. Angst, Verzweiflung und Ohnmacht über das Schicksal ihres Sohnes und Bruders stehen ihnen ins Gesicht geschrieben. «Es sind die schlimmsten Stunden meines Lebens», sagt die Mutter. Kein Auge habe sie letzte Nacht zugemacht. Vanek trifft sich mit den Eltern zum Gespräch. Dabei klärt er sie auf über die möglichen Verlaufsformen, die bei der Erkrankung von Luca noch auftreten könnten, aber nicht zwingend auftreten müssen. Er drückt sich vorsichtig optimistisch aus. Tief in seinem Innern ist Vanek überzeugt, dass der Junge diese Krise überwindet und wieder ganz gesund wird.

«Der Junge sollte langsam aufwachen», sagt der Arzt, als er wieder zurück in seinem Büro ist.

* Name von der Redaktion geändert. Lesen Sie morgen: Wird Patrik Vanek recht behalten und wird Luca wieder gesund? Bereits erschienen: «Wo Leben und Tod nah beieinander liegen» (Ausgabe 21. März) und «‘Es darf doch nicht sein, dass mein Sohn vor mir gehen muss?’» (Ausgabe Dienstag, 22. März)

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