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Bis zum bitteren Staffel-Ende und darüber hinaus

Stundenlang vor dem Fernseher sitzen, unablässig eine Folge nach der anderen schauen – was für viele ­unvorstellbar ist, ist für andere ein wahrer Genuss. Aus dem Leben eines Serienjunkies.

Südostschweiz
06.08.15 - 07:00 Uhr

Ja, ich denke, ich bin das, was man als Serienjunkie bezeichnen kann. Für mich ist das aber nichts Negatives. Ich konsumiere Unterhaltung, wie die meisten meiner Generation und muss zugeben, dass mir ohne staffelweise Verbrecherjagden, Ärztedramen, Verschwörungstheorien im Weissen Haus und Sexkolumnistinnen aus New York etwas fehlen würde. Aber wie gesagt, damit bin ich heute sicher kein Sonderfall. Unter meinen Freunden ist es normal, dass man einfach mal einen Abend, wenn man frei hat, vielleicht sogar einen Nachmittag, gar einen ganzen Tag lang gefesselt vor dem Bildschirm sitzt und sich eine Folge nach der anderen der aktuellen Lieblingsserie reinzieht. Wieso? Ich wage einen Erklärungsversuch.

Es ist ein Rauscherlebnis

Jeder kennt das Gefühl, wenn man ein gutes Buch liest, sich einen tollen Film anschaut und irgendwann bei der letzten Seite oder beim Abspann angelangt ist. Natürlich ist das in gewisser Weise befriedigend, aber kurz danach ist da oft ein Hauch von Bedauern. Diese tolle Geschichte ist zu Ende und es gibt rein gar nichts, was man dagegen tun könnte. Und die Frage, ob man wohl jemals wieder ein so gutes Buch lesen oder einen so guten Film sehen wird, tja, die bleibt offen. Man wünscht sich fast, die Zeit zurückdrehen zu können, um noch einmal diesen Rausch zu erleben.

Es ist genau dieses berauschende Gefühl, das sich beim Schauen einer TV-Serie einstellt und mich immer wieder auf «nächste Folge» drücken lässt. Anders als bei Büchern und Filmen findet die Unterhaltung nämlich nicht nach 90 Minuten oder ein paar Hundert Seiten ein vorzeitiges, frustrierendes Ende.

Man will süchtig werden

Um das klarzustellen: Ich liebe Filme. Trotzdem empfinde ich die Serienwelt als wesentlich vergnüglicher. Serien sind Konstanten, begleiten einen über einen längeren Zeitraum, bieten Identifikationsfläche, sie trösten, erlauben es einem für eine Weile woanders zu sein, sie schaffen Vorfreude – auf die nächste Folge, die nächste Staffel. Vor allem aber sind Serien zuverlässig. Wenn ich abends den Fernseher einschalte oder mir einen Film ausleihe, habe ich keine Ahnung, was mich genau erwartet. Ich kenne meine Serie, kenne die Figuren, weiss, dass die Unterhaltung gut sein wird.

Zudem ist der Vorrat an sehenswerten Produktionen beinahe unerschöpflich. Immer wieder bringt dieses Genre neue liebenswerte Charaktere, spannende Geschichten, verrückte Handlungen und sagenhafte Fantasiewelten hervor, von denen man ganz einfach nicht genug bekommen kann. Das will man auch gar nicht. Im Gegenteil: Man will regelrecht süchtig werden. Wenn mich eine Geschichte nicht nach zwei, maximal drei Folgen in ihrem Bann hat, fällt sie durch und ich suche mir eine andere aus. Eine gute TV-Serie schafft es, den Zuschauer so zu fesseln, dass er nicht anders kann, als weiterzuschauen. Es muss das tiefe Bedürfnis geweckt werden wissen zu wollen, wie es weitergeht.

Da Unterhaltung längst zum Wunschkonzert geworden ist und alles immer irgendwo verfügbar ist, steht dem Frönen dieser Leidenschaft nichts im Weg. Vor 20 Jahren war es gar nicht möglich, ein sogenannter Serienjunkie zu sein. Ich kann mich zwar gut daran erinnern, dass auch bei meiner Grossmutter nichts zwischen sie und die neueste Folge von «Reich und schön» kommen durfte, aber es wurde jeweils nur eine Episode ausgestrahlt und damit war die Sache dann auch erledigt. Heute muss niemand mehr eine ganze Woche warten.

Wenn ich Carrie Mathison bei ihrer Arbeit als CIA-Agentin in «Homeland» folge, dann blende ich alles andere aus und lasse mich richtig in die Geschichte hineinziehen. Genauso ist es bei dem Drogen kochenden Walter White aus «Breaking Bad» oder bei der Mutter der Drachen Daenerys Targaryen in «Game Of Thrones». Vorabendliche Krimiserien und Telenovelas beiseite gestellt – es gibt so viele unglaublich gute Produktionen mit tollen Schauspielern und Handlungssträngen, die es mit so manchem Bestseller aufnehmen können. Teilweise basieren sie ja sogar darauf.

Ein sinnloses Hobby

Meiner Meinung nach ist das Serienschauen viel besser, als wahllos auf TV-Sendern herumzuzappen und sich mit allem möglichen Schund berieseln zu lassen. Wie so viele andere Dinge, die Spass machen, ist es offensichtlich ein sinnloses Hobby. Gerade deswegen ist ein verantwortungsvoller und vernünftiger Umgang damit gefragt, der aufgrund der permanenten Verfügbarkeit so seine Tücken hat. Ich lege für mich einen Zeitraum fest, in dem ich mein sündiges Vergnügen ausüben darf und die Zeit drum herum widme ich wichtigeren Dingen. Letzen Endes handelt es sich ja doch nur um Fantasiewelten, deren Figuren weder meine Arbeit, Einkäufe oder Wäsche für mich erledigen.

Zeitgemässe Unterhaltungskunst

Wer selbst ein passionierter Serien-Fan ist, dem kann ich nur gratulieren. Ich sehe uns nicht als Opfer mittelmässiger Unterhaltung, sondern als Konsumenten zeitgemässer Unterhaltungskunst. Natürlich gibt es auch bei dieser Art des Heimkinos viel Ausschussware, aber wer die Perlen entdeckt, sich auf sie einlassen kann, der wird ein wahrhaft beneidenswertes Erlebnis haben.

Und ist man dann doch einmal bei der letzten Folge der letzten Staffel angelangt, geht es wie immer auf die Jagd nach neuem Stoff. Es findet sich meist leicht eine nächste abendliche Geliebte, die zuverlässig über den Bildschirm flimmert. (Lea Hefti)

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