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Bündner Filmer Sören Senn zeigt jähen Fall eines Managers

Der Churer Regisseur Sören Senn ist mit seinem Dokumentarfilm für den Prix de Soleure an den Solothurner Filmtagen nominiert. «Weg vom Fenster» zeigt den tiefen Ab- und Wiederaufstieg eines Burn-out-Patienten.

Südostschweiz
25.01.17 - 06:00 Uhr
Kultur
Matthias N. besucht in Sören Senns Dokumentarfilm nochmals die Stationen seines Leidenswegs. Pressebild
Matthias N. besucht in Sören Senns Dokumentarfilm nochmals die Stationen seines Leidenswegs. Pressebild

von Mathias Balzer

Matthias N. wacht auf. Er sitzt in seinem Auto auf dem Parkplatz irgendeiner Raststätte im Mittelland. Er kann sich nicht an seinen Namen erinnern. Er ist ein Häufchen Asche. Er ist ausgebrannt. Burn-out auf Neudeutsch. Ein vager Begriff, der für alle möglichen Symptome herhalten muss. Das hier ist jedoch ein Ernstfall. Es wird zwei Jahre dauern, bis der heute 39-Jährige wieder einigermassen Boden unter die Füsse bekommen wird.

Der Bündner Regisseur Sören Senn hat mit Matthias N. die Stationen seines Passionswegs wieder besucht. Vier Jahre nach dem Zusammenbruch. Entstanden ist so der Dokumentarfilm «Weg vom Fenster – Leben nach dem Burn-out».

Ganz unten, für lange Zeit

«Irgendwann hat es nicht mehr gereicht, am Abend alles zu erledigen. Dann hab ich eben den frühen Morgen noch angehängt. Das ergab dann Arbeitstage, die von 3.45 Uhr bis 23.30 Uhr dauerten.» So beschreibt Matthias N. die Zeit vor dem Zusammenbruch, als er noch eine AG mit vier Firmen im Medizinalbereich leitete. «Nicht der Zusammenbruch war das Schlimmste, sondern das, was danach kam», sagt er rückblickend. Danach – das war die Hölle. Hätte man im Mittelalter gesagt. Der medizinische Fachbegriff unserer Zeit ist Erschöpfungsdepression.

Matthias N. wird in eine Klinik gebracht, «heruntergespritzt», wie er sagt. Der eigentliche Tiefpunkt aus Sicht des Patienten kommt jedoch erst acht Wochen später. Der Top-Manager findet sich in einer Werkstätte wieder. Er soll dort aus WC-Rollen und Holzstäbchen Zündkapseln für Cheminées basteln. Das Ego schreit auf. Das kann es doch nicht sein. Nicht ich!

Die Wahrheit ist jedoch: Matthias N. schafft es kaum, diese einfache Arbeit zu erledigen. Er schaut sich selbst dabei zu, wie er an den einfachsten Aufgaben scheitert. Selbst das Besteigen eines Zuges auf einem Provinzbahnhof wird zum kaum lösbaren Problem. Immer wieder sackt der Energiehaushalt auf null ab. Das Geschäftsauto wird von der Firma abgeholt. Der Vater von drei Kindern steht nicht nur vor dem inneren Abgrund. Auch seine Karriere ist futsch. Er, der früher alles meistern konnte, wird zum IV-Fall. Anstatt den Zug zu nehmen, könnte er sich auch auf die Geleise legen, denkt er sich. Es ist die Familie, zuvor für die Karriere so arg vernachlässigt, die zum Rettungsanker wird.

Bereits ein Jahr ist vergangen, als Matthias N. in einem Gastrobetrieb, spezialisiert auf die Reintegration von IV-Patienten, anheuert. Doch er ist immer noch kaum arbeitsfähig. Drei Eiswürfel für das kleine, vier für das grosse Mineralwasser: eine totale Stresssituation. Erst der nochmalige Aufenthalt in einer Tagesklinik bringt Licht ans Ende des Tunnels. Der Patient lernt langsam, sich seine Situation einzugestehen. Ihm dämmert, dass er sein Leben neu erfinden muss, und er erkennt: «Es gibt niemanden, der auf dem Sterbebett sagt: Ach, hätte ich doch mehr Zeit im Büro verbracht.»

Einer, der Glück hatte

Demut, Geduld, Mut zur Selbsterkenntnis, eine Familie, die zu einem hält, das Glück, die richtigen Ärzte und Betreuer zu treffen, zwei Jahre Lebenszeit: All das braucht es, damit ein ausgebrannter Mensch zurückfindet. Matthias N. arbeitet heute als Betreuer für IV-Bezüger. Er hat es geschafft.

Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt Senns Film. In stillen, streng komponierten Bildern erzählt er diese Geschichte von einem, der noch einmal davongekommen ist. Viele Ausgebrannte haben dieses Glück nicht. Sie finden nicht mehr zurück.

Das Interview mit dem Regisseur in der «Südostschweiz» vom Mittwoch.

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Sören Senn hat das Burn-Out in einem Dokumentarfilm festgehalten. Pressebild

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